Warum wir uns die Reichen nicht leisten können. Einführung

Warum wir uns die Reichen nicht leisten können. Einführung


Andrew Sayer

«Es herrscht Klassenkampf, in Ordnung, aber es ist meine Klasse, die Reichen, die diesen Kampf führt, und wir sind dabei ihn zu gewinnen.» (Warren Buffett, geschätzte 44 Milliarden $ «schwer», Vorstandsvorsitzender und CEO von Berkshire Hathaway, zitiert in der New York Times vom 26. November 2006)[1]

Wir sind Zeugen eines außergewöhnlichen Phänomens. Seit Jahren setzen sich die Reichen immer deutlicher von allen anderen ab. Die obersten 1 % beanspruchen einen wachsenden Teil des Nationalvermögens, während der Anteil niedriger und mittlerer Einkommen unablässig schrumpft. Selbst die größte Krise seit 80 Jahren hat die Reichen nicht daran gehindert, noch reicher zu werden. Nach wie vor machen sie das große Geld und verstecken es in ihren Steueroasen, während die kleinen Leute marode Banken retten dürfen. Zugleich breitet sich eine ganze andere Art von Banken aus, food banks, Essensausgaben für Leute, die nicht mehr über die Runden kommen. Die Sparpolitiken, die den obersten 10 % und vollends den obersten 1 % nichts anhaben konnten, haben die ganz unten am härtesten getroffen. Je weniger man für die Krise verantwortlich ist, desto größer sind im Verhältnis zum Einkommen die Opfer, die man bringen muss. Die Jugendarbeitslosigkeit ist sprunghaft gestiegen, in Spanien und Griechenland auf über 50 %. Die Zahlen stehen für eine empörende Verschwendung junger Leben, und in vielen Ländern ist längst klar, dass diese Jugendlichen nie den Wohlstand kennenlernen werden, den ihre Eltern noch genießen durften. Als wäre es nicht die lächerlichste Antwort auf unsere Wirtschaftsprobleme, noch mehr von dem wichtigsten Gut zu verschleudern, das wir besitzen: den Menschen. Eine politische Klasse, die immer stärker unter dem Einfluss der Reichen steht, fährt unterdessen fort, deren Interessen zu vertreten und durch Stigmatisierung von Sozialhilfeempfängern und Geringverdienern die öffentliche Aufmerksamkeit von dieser Politik abzulenken – mit der Unterstützung von Medien, die ihrerseits weitgehend in der Hand von Superreichen sind.

Aber so unbestreitbar die Kluft zwischen den Reichen und dem Rest der Welt größer geworden ist – folgt daraus schon, wie im Titel dieses Buchs behauptet, dass wir uns die Reichen nicht leisten können? Fürs erste nur eine knappe Antwort: Ihr Reichtum beruht in erster Linie auf der Produktion von Gütern und Dienstleistungen durch andere. Abgeschöpft durch Dividenden, Kapitalgewinne, Zinsen, Mieten und andere ökonomische Renten, sind große Teile dieses Reichtums in Steueroasen versteckt. Die Reichen haben die Mittel, das Wirtschaftsleben, die Medien und die Politik ihrem Einfluss zu unterwerfen und schränken den Handlungsspielraum von Demokratien ein, indem sie ihre Sonderinteressen und Weltanschauungen durchsetzen. Sie pflegen einen maßlosen und verschwenderischen Konsum, der Ressourcen aufzehrt, die andere nicht bloß dringender bräuchten, sondern auch eher verdient hätten. Ihre CO2-Bilanz ist grotesk überhöht, und viele von ihnen haben ein handfestes Interesse an der Fortsetzung einer fossilen Energieerzeugung, die unseren Planeten bedroht.

Natürlich lässt dieser kurze Steckbrief eine ganze Reihe von Merkmalen außer Acht, von Argumenten und Beweisen ganz zu schweigen. Manche Leser werden auf Anhieb zustimmen, manche ein paar Einwände haben, andere ungläubig den Kopf schütteln, vielleicht sogar mit Empörung reagieren: Wer behauptet, wir könnten uns die Reichen nicht leisten, unterstellt doch, dass sie uns etwas kosten, ja eine Belastung für uns sind. Schaffen die Reichen nicht Wohlstand und Arbeitsplätze? Sind sie nicht Unternehmer und Investoren, also genau die Art von Leuten, die wir dringend brauchen? Hat nicht ein Bill Gates, dessen Produkte Millionen zugutekommen, seinen Reichtum mehr als verdient? Dürfen die Reichen etwa mit ihrem hart verdienten Geld nicht machen, was sie wollen? Wer wollte sich ein Urteil darüber anmaßen, dass ihr Konsum maßlos ist? Und ihre CO2-Bilanz – die könnten sie doch einfach verbessern. Würden ihre Philanthropie und jener Trickle-down-Effekt ihrer Ausgaben, durch die der Wohlstand von oben nach unten «durchsickert» und gerade den Ärmsten zugutekommt, der Welt nicht fehlen? Und ist dieses Buch nicht bloß ein weiteres Beispiel einer Neidpolitik, die es auf die abgesehen hat, die der frühere britische Premier Tony Blair «die Erfolgreichen» zu nennen pflegte? Sollten wir unseren «Leistungsträgern» nicht dankbar sein, statt ihnen ihren Erfolg zu missgönnen?

Die Entkräftung solcher Einwände gegen die Annahme, dass die Reichen Wohlstand weniger schaffen als abschöpfen, ist eine Herausforderung, die den größten Teil dieses Buchs in Anspruch nehmen wird, obwohl ich auch anderen Einwänden begegnen werde. Anders als es der billige Vorwurf derer will, denen die Beweise und Argumente ausgehen, wird damit auch immer deutlicher werden, dass es nicht um Neidpolitik geht. Ich beneide die Reichen nicht, und nichts scheint mir verfehlter, als das zu tun. Aber ich nehme Anstoß an der Ungerechtigkeit eines Systems, das es ihnen erlaubt, sich einen Reichtum anzueignen, den andere produziert haben, und die Gesellschaft ihren eigenen Interessen zu unterwerfen. Zudem ist dieses System, das uns eine gnadenlose Ellbogengesellschaft beschert, nicht bloß ungerecht, sondern überdies dysfunktional und ineffizient.

Es ist höchste Zeit zu prüfen, woher der Reichtum der Reichen stammt. Der Occupy-Bewegung ist es gelungen, die Aufmerksamkeit auf die wachsende Kluft zwischen den 99 % und jenen obersten 1 % zu lenken, die zugleich wachsenden Einfluss auf die Politik nehmen. Seit den 1970er Jahren, als der Nachkriegsboom zu Ende ging, haben die Reichen ein bemerkenswertes Comeback gefeiert und konnten in einer ganzen Reihe von Ländern, Großbritannien eingeschlossen, ihren Anteil am Nationaleinkommen rasch vergrößern. Wie aus Grafik 1.1 zu ersehen, nähern wir uns inzwischen wieder einem Stand der Ungleichheit zwischen den Reichen und allen anderen, wie wir ihn vom Anfang des 20. Jahrhunderts kennen. Verfügten sie von den 1950er Jahren bis 1978, während des Golden Age of Capitalism, im Vereinigten Königreich «nur» über 5,9–9 % des Gesamteinkommens vor Steuern, kommen die Top-«Verdiener» 2011 bereits auf 13 %.

Grafik 1.1: Anteil der Spitzeneinkommen am Gesamteinkommen im Vereinigten Königreich, 1913–2011
Quelle: F. Alvaredo, A. B. Atkinson, T. Piketty, E. Saez: The world top incomes database, http://topincomes.g-mond.parisschoolofeconomics.eu/.

U-Kurven wie in Grafik 1.1 fallen für die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich, Kanada, Irland und Australien am steilsten, für Schweden und Norwegen flacher aus. Auch Italien, Spanien, Neuseeland und Argentinien haben eine Wiederkehr der Reichen erlebt, freilich mit stärkeren Schwankungen. In China sind in den letzten Jahren natürlich die Spitzeneinkommen dramatisch gestiegen. Sehr viel weniger massiv nimmt sich das Comeback der Reichen in Frankreich, Dänemark und Japan aus, in denen die Kurve eher L-förmig ist. In Deutschland ist der Anteil der 1 % am Nationaleinkommen seit dem Krieg einigermaßen stabil geblieben, wenngleich auf relativ hohem Niveau. In den Niederlanden und der Schweiz sind die Einkommensanteile der obersten 1 % seit dem Ende des Nachkriegsbooms zurückgegangen.[2]

Einen anderen Ausblick auf diese Rückkehr der Reichen, diesmal in der weltweit führenden kapitalistischen Volkswirtschaft, in den Vereinigten Staaten, bieten die Grafiken 1.2 und 1.3. Die fünf Balken auf der linken Seite unterteilen die Bevölkerung in gleich große Gruppen. Der Balken ganz links repräsentiert das ärmste Fünftel (oder die Perzentile 0–20), der nächste Balken das zweitärmste Fünftel etc. Die fünf Balken auf der rechten Seite stehen dagegen in beiden Grafiken für Untergruppen des reichsten Zwanzigstels, also der obersten 5 % der Bevölkerung.

Grafik 1.2: Wandel des Realeinkommens der Haushalte in den USA, 1947–1979
Quelle: Daten von Census Bureau und Economic Policy Institute, zusammengestellt von Colin Gordon. Einkommen schließen Transfers ein. Durchschnittliche Spitzeneinkommen (nur Markteinkommen) nach Piketty and Saez: World top incomes database. Zahlen für die obersten 5 % nach beiden Quellen angegeben, http://www.epi.org/blog/growing-growing/.
Grafik 1.3: Wandel des Realeinkommens der Haushalte in den USA, 1979–2012
Quelle: Daten von Census Bureau und Economic Policy Institute, zusammengestellt von Colin Gordon. Einkommen schließen Transfers ein. Durchschnittliche Spitzeneinkommen (nur Markteinkommen) nach Piketty and Saez, World top incomes database. Zahlen für die obersten 5 % nach beiden Quellen angegeben, http://www.epi.org/blog/growing-growing/.

Zunächst also die Lage in der frühen Nachkriegszeit (Grafik 1.2). Die Mehrheit der Bevölkerung partizipierte damals am Nachkriegsboom. Die niedrigen Haushaltseinkommen wuchsen etwas stärker, die obersten 5 % dagegen bei höherem Ausgangsniveau etwas schwächer als die übrigen. Aber seit 1979 hat die Situation sich völlig umgekehrt (Grafik 1.3). Der Befund könnte deutlicher nicht ausfallen. Die Mehrheit der Einkommen stagniert oder wächst nur sehr langsam, und die ärmsten 5 % müssen substantielle Verluste hinnehmen, während die Reichen davonziehen und die Wachstumsgewinne einstreichen. Allein die obersten 0,01 % verbuchen eine reale Einkommenssteigerung von ganzen 685 %![3] Der Crash von 2008 hat diesem Auseinanderdriften keineswegs Einhalt geboten. Die Austeritätspolitiken in seinem Gefolge haben, aller «Das stehen wir gemeinsam durch!»-Rhetorik zum Trotz, niedrige und mittlere Einkommen ungleich härter getroffen und die Kluft noch rascher wachsen lassen.

Tatsächlich herrscht innerhalb der obersten 1 % eine sehr viel größere Ungleichheit als zwischen ihnen und den 99 %. Die Einkommen in diesem Perzentil reichen von knapp unter 100.000 £ bis zu Milliardensummen.[4] Zudem wachsen Einkommen umso rascher, je größer sie sind. Die obersten 0,5 % haben ihren Anteil schneller als der Rest der 1 % vermehrt, aber langsamer als die obersten 0,1 %. Und die obersten 0,01 % (ein Zehntausendstel) sind noch schneller noch reicher geworden.[5]

Ungleichheiten des Vermögens, also des Geldwerts aller Vermögenswerte einer Person abzüglich ihrer Verbindlichkeiten (Schulden), sind sogar noch größer als Einkommensungleichheiten. Und sie nehmen zu. In den Vereinigten Staaten gehören 35 % des Nationalvermögens den obersten 1 %, den unteren 40 % ganze 0,2 %. In Großbritannien besaß zwischen 2008 und 2010 jedes Mitglied der obersten 1 % 2,8 Millionen £ oder mehr (14 % des Nationalvermögens) – und bedenkt man, welche Möglichkeiten, ihren Reichtum zu verstecken, den Reichen zu Gebote stehen, so ist dies zweifellos eine zu niedrige Schätzung (Grafik 1.4). 28 % Prozent des Vermögens in Großbritannien sind nicht verdientes, sondern ererbtes Vermögen.[6] Die Hälfte der Bevölkerung besaß weniger als 232.400 £, die ärmsten 10 % weniger als 12.600 £:

Grafik 1.4: Verteilung des Gesamtvermögens auf Haushalte, 2008–2010, Großbritannien
Quelle: J. Hills, F. Bastagli, F. Cowell, H. Glennerster, E. Karagiannaki, A. McKnight: «Wealth distribution, accumulation, and policy», Centre for the Analysis of Social Exclusion, CASEbrief 33, 2013. Die Angaben beruhen auf einer Analyse der Reichtums- und Vermögensentwicklung des Office for National Statistics (ONS) für Juli 2008 bis Juni 2010. Das Gesamtvermögen schließt Rentenansprüche ebenso ein wie Privatbesitz, Nettofinanzvermögen und Immobilienbesitz (abzüglich Hypotheken). Jede Spalte weist das Vermögen von einem Prozent der Haushalte aus.

Die Entwicklung des Anteils der 1 % am Nationalvermögen beschreibt ihrerseits eine U-Kurve. Auffällig ist, dass sich das Wachstum dieses Anteils innerhalb der 1 % seinerseits an der Spitze der Vermögenspyramide konzentriert. In den Vereinigten Staaten ist der Anteil der obersten 0,01 % von weniger als 3 % Mitte der 1970er Jahre auf über 11 % im Jahr 2013 gestiegen (Grafik 1.5). Der Anteil der übrigen Angehörigen dieser Gruppe der reichsten 0,1 % ist im gleichen Zeitraum von weniger als 6 % auf fast 11 % gestiegen, während ansonsten der Anteil der obersten 1 % einigermaßen konstant geblieben ist. Das reichste Tausendstel – zu dem derzeit gehört, wer mehr als 20 Millionen schwer ist – besitzt über ein Fünftel des Reichtums der Vereinigten Staaten.

Grafik 1.5: Spitzenvermögen in den USA: Wandel des Anteils am US-Nationalvermögen innerhalb der obersten 1 %
Quelle: E. Saez, G. Zucman: «The distribution of US wealth, capital income and returns since 1913», 2014, http://gabriel-zucman.eu/files/SaezZucman2014Slides.pdf.

Das globale Gesamtbild ist noch weit extremer, ja geradezu befremdlich.

Wem gehört die Welt? Zahlen aus dem Oxfam-Bericht 2014

● Die reichsten 80 Menschen der Welt besitzen so viel wie die 3,5 Milliarden Menschen umfassende ärmere Hälfte der Weltbevölkerung.

● 48 % des Vermögens der Welt gehören 1 % der Bevölkerung.[7]

● Das Vermögen der reichsten 1 % der Welt beläuft sich auf 110 Billionen $. Das ist 65 Mal mehr als das Gesamtvermögen der unteren Hälfte der Weltbevölkerung.

● Sieben von zehn Menschen leben in Ländern, in denen die wirtschaftliche Ungleichheit in den letzten 30 Jahren zugenommen hat.[8]

Ist der Reichtum der Reichen gewachsen, weil sie mit einem Mal unternehmerischer, dynamischer und geschäftstüchtiger geworden sind? Weil sie mehr Wohlstand geschaffen haben? Verstehen sich die Kapitalisten oder, wie sie sich lieber nennen, die Unternehmer von heute so viel besser darauf, die Wirtschaft anzukurbeln, als ihre bescheidener entlohnten Vorgänger während des Nachkriegsbooms? Glaubt man den Wirtschaftsdaten, so trifft das Gegenteil zu. Die Wachstumsraten liegen unter denen des Aufschwungs der Nachkriegszeit, und es gibt keinen Zweifel daran, dass die Reichen nicht einen gleichen Anteil stärkeren, sondern einen größeren Anteil geringeren Wachstums einstreichen. Wie haben sie das geschafft?

Die Reichen erhalten nicht allein einen größeren Teil des Bruttonationaleinkommens, es bleibt ihnen auch mehr davon – dank massiver Senkungen des Spitzensteuersatzes (Grafik 1.6).[9] Ab den 1930er Jahren waren die Spitzensteuersätze in Großbritannien, den Vereinigten Staaten, Frankreich und kurzfristig auch in Deutschland zunächst auf über 90 % gestiegen. Man mag es kaum noch glauben, nachdem sie heute auf unter 50 % gefallen sind und eine ganze Reihe von Regierungen immer wieder versucht, sie noch weiter nach unten zu drücken. Der Himmel stürzte nicht ein, als die Spitzensteuersätze so hoch waren. Im Gegenteil: Die Wirtschaft in den genannten Ländern florierte. Dennoch will man uns heute in mahnendem Ton darüber belehren, dass Besteuerung der Reichen nur das Wachstum bremse.

Grafik 1.6: Spitzensatz der Einkommensteuer, 1900–2011
Quelle: T. Piketty, E. Saez, S. Stantcheva: «Optimal taxation of top labor incomes: a tale of three elasticities», Working Paper 17616, National Bureau of Economic Research, MA, 2011.

Was wir heute erleben, ist die tiefste Rezession seit der Weltwirtschaftskrise der 1920er und 1930er Jahre. Aber während damals, unter dem New Deal, die Antwort in einer hohen Besteuerung der Reichen und strikten Regulierung der Finanzmärkte bestand, geschieht diesmal nichts dergleichen, weder diesseits noch jenseits des Atlantiks. Die Reichen haben sich aus der Affäre gezogen, und dem Finanzsektor steht es frei, noch größeren Schaden anzurichten.

Mein Buch will zu einem kritischen Blick auf die Reichen auffordern. Aber seine Beweisführung richtet sich nicht gegen bestimmte Personen, sondern gilt der Frage, aus welchen Quellen ihr Reichtum und ihre Macht sich speisen und womit er gerechtfertigt wird. Es ist stets verlockend, Einzelne ins Visier zu nehmen, die uns alles zu verkörpern scheinen, was uns in diese missliche Lage gebracht hat – all jene zum Beispiel, die durch ihre Verfehlungen, ihr verantwortungsloses Risikomanagement, ihre grenzenlose Gier nicht nur Banken in Schieflage und Menschen um ihre Renten und Häuser gebracht haben, sondern dafür auch noch fürstlich entlohnt wurden. Viele Bücher über die Finanzkrise erzählen die Geschichte von den selbsternannten Masters of the Universe, vom Aufstieg der Finanzriesen und ihrem Untergang – oder, häufiger noch, von ihrer Fähigkeit, die Konsequenzen ihres Versagens auf andere abzuwälzen und den eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Richtet man aber das Augenmerk allein auf Individuen, so verliert man die Voraussetzungen aus dem Blick – die Regeln, Institutionen, Verhältnisse, aus denen sie Vorteil ziehen. Und so sehr man geneigt ist, eine Gier anzuprangern, für die es wahrlich Beweise in Hülle und Fülle gibt – mit dem bloßen Ausdruck der Missbilligung ist es nicht getan, weil er sich nicht mit den Umständen befasst, die der Gier erst den Boden bereiten. Solange sich an ihnen nichts ändert, solange wird es auch jemanden geben, der zum Schaden seiner Mitmenschen Nutzen aus ihnen zieht; und wenn es die Verantwortlichen von heute nicht tun, dann eben die von morgen. Natürlich tragen sie Verantwortung für ihr Handeln, ganz wie wir anderen auch. Aber wir müssen uns darüber hinaus fragen, wie die Bedingungen aussehen, unter denen man sich überhaupt auf Kosten anderer bereichern kann. Dies ist also kein Buch, das sich in Tiraden gegen Reiche oder Superreiche ergeht. Wenn ich auf Einzelpersonen zu sprechen komme, dann um allgemeinerer Zusammenhänge willen.

Um zu zeigen, weshalb wir uns die Reichen nicht leisten können, müssen wir also nicht allein herausfinden, wie reich sie eigentlich sind, wie sie zu ihrem Geld kommen und wie sie es ausgeben. Anders als die meisten Bücher über die Reichen und die Finanzkrise werden wir nach der Legitimität ihres Reichtums fragen müssen. Und dennoch ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, wie reich sie wirklich sind. Ich will die Leser nicht durch eine unverdauliche Masse von Grafiken und Tabellen abschrecken, aber ein paar braucht es umso mehr, als die meisten sich gar keine Vorstellung davon machen, welche Ungleichheit in unserer Gesellschaft herrscht und wie reich die Reichen sind.

Wie reich muss man sein, um reich zu sein? Lässt sich das in absoluten Zahlen angeben? 100.000 £ jährlich? Eine Million und mehr? Oder besser in Prozentsätzen: die obersten 1 % oder 0,1 %?

Beide, die absoluten und die relativen Zahlen oder Begriffe sind aufschlussreich. Und wir sollten zweierlei auseinanderhalten: Einkommen (ein Einkommensstrom über einen bestimmten Zeitraum) und Vermögen (der Marktwert sämtlicher Vermögenswerte einer Person, abzüglich Schulden). Vermögen ist sehr viel ungleicher verteilt als Einkommen.

Wo verläuft die Kluft zwischen den Reichen und dem Rest der Welt? Über weite Teile dieses Buchs werde ich vornehmlich über die obersten 1 % sowie Untergruppen dieses Perzentils und ihren jeweiligen Anteil am Nationaleinkommen sprechen. Insbesondere für den Fall Großbritanniens wird sich zeigen, dass die Protestierenden der Occupy-Bewegung tatsächlich, auch wenn sie sich dessen nicht wirklich bewusst gewesen sein mochten, eine entscheidende Demarkationslinie berührt hatten, als sie die 1 % den 99 % gegenüberstellten. Danny Dorling, der radikale Statistiker und Sozialgeograph, hat für ein ganzes Jahrhundert in Großbritannien (1910–2009) zeigen können, dass sich die Anteile am Gesamteinkommen, die von den verschiedenen Gruppierungen innerhalb der obersten 1 % gehalten werden, in die gleiche Richtung, aber gegenläufig zu den Anteilen der 99 % entwickelt haben. Bekommen die 1 % mehr, bekommen die 99 % weniger. Das liegt nicht etwa daran, dass sich die Einkommensanteile dieser beiden Gruppen zusammen eben auf 100 % belaufen müssen. Es hätte auch sein können, dass die oberen 20 % gewinnen, während die unteren 80 % verlieren, oder die oberen 35 % im Verhältnis zu den unteren 35 %, oder dass alles ein viel komplexeres Bild ergibt. Aber dem war nicht so. Die große Scheidelinie verlief zwischen den 1 % und den 99 %. Gewiss waren es in erster Linie die unteren 90 %, die im Verhältnis zu den 1 % verloren haben. Aber selbst der Anteil, den die 9 % über ihnen und also unterhalb der 1 % am Nationaleinkommen hielten, ist in den letzten 20 Jahren, in denen der Anteil der Reichen zunahm, leicht zurückgegangen. In Großbritannien haben, mit anderen Worten, selbst die am besten Gestellten der 99 % mehr mit dem Rest der Bevölkerung als mit den obersten 1 % gemein, was die Entwicklung ihres Anteils am Nationaleinkommen anbelangt.[10] Weniger scharf verläuft die Trennlinie in den Vereinigten Staaten. Dort konnten die 4 % unterhalb der obersten 1 % seit dem Nachkriegsboom einen leichten Anstieg ihres Anteils am Nationaleinkommen verbuchen – wenngleich nichts, was mit dem Höhenflug ganz oben vergleichbar wäre. Die ganz großen Zugewinne wurden an der Spitze der 1 % eingefahren.

Aber das Problem mit den Reichen rührt nicht nur von der Quantität ihres Einkommens oder Vermögens her. Entscheidend ist auch, wo ihr Geld herkommt. Je reicher sie sind, desto größer ist wahrscheinlich auch, wie zu zeigen sein wird, der unverdiente Anteil ihres Einkommens – weil er sich nicht einem produktiven Beitrag, sondern ihrer Macht verdankt. Wir haben es also mit einem qualitativen und nicht bloß mit einem quantitativen Problem zu tun.

Dieses qualitative Problem ist entscheidend, weil unsere Frage nicht nur lautet: Wie reich ist reich? Sie lautet auch: Wie viel ist zu viel? Wann ist jemandes Einkommen oder Vermögen unverhältnismäßig hoch oder unvertretbar?[11] Wenn es

● mehr ist als der Gegenwert des Beitrags, den er leistet (so dass er ohne triftigen Grund von anderen subventioniert wird)?

● mehr ist als das, was ihnen zu zahlen andere sich leisten können?

● mehr ist als das, was er braucht oder was für sein Wohlergehen notwendig ist?

● mehr ist als sein Anteil an den Ressourcen unseres Planeten?

Die Antwort darauf hängt davon ab, über welche Probleme wir gerade sprechen. Im Hinblick auf den CO2-Ausstoß und den Klimawandel sind die meisten von uns, die wir in den reichen Ländern leben, zu reich, obwohl manche dieser Länder (USA, Australien) einen sehr viel größeren CO2-Ausstoß haben als andere, wie Frankreich oder Schweden. Würde die ganze Welt so viel CO2 produzieren wie die USA, bräuchten wir fünf Planeten, um den Ausstoß zu absorbieren. Die Bevölkerung der USA macht nur 5 % der Weltbevölkerung aus, aber sie verursacht ein Viertel der globalen CO2-Emissionen.[12] Im Allgemeinen gilt die Regel: Je höher das Einkommen, desto höher der CO2-Ausstoß. In den meisten anderen Hinsichten, die uns beschäftigen werden, ist die Zahl derer, von denen man mit Fug und Recht behaupten kann, dass sie zu viel haben, auch in den reichen Ländern sehr viel kleiner. Die größte aller Bedrohungen aber ist, wie wir noch sehen werden, der Klimawandel.

Unfassbarer Reichtum

Seit der Finanzkrise ist allenthalben von Millionen, Milliarden und Billionen die Rede, aber es fällt uns schwer, uns vor Augen zu führen, was sich hinter diesen Zahlen konkret verbirgt. Wir wissen natürlich, dass 1 Milliarde (1000 Millionen) eine gewaltige Summe ist, aber wir können sie uns nicht vorstellen. Versuchen wir es einmal so: Stellen Sie sich vor, man würde ihnen jede Sekunde 1 € in die Hand drücken, bis Sie eine Milliarde haben. Sie werden vielleicht denken, Sie kämen rasch auf diese Summe – immerhin hätten Sie nach einer Stunde schon 3600 €. Aber tatsächlich müssten Sie über 31 Jahre und 8 Monate warten. Das mag veranschaulichen, wie unfassbar reich Milliardäre sind. Und was die Billionen anbelangt, von denen man oft hört, wenn die Kosten der Bankenrettungen geschätzt werden, so bräuchten Sie bei der gleichen Versuchsanordnung für 1 Billion fast 32.000 Jahre.

2011 belief sich nach Schätzungen der Wirtschaftsprüfer von Deloitte das Vermögen von US-Haushalten mit mehr als 1 Million $ auf 38,6 Billionen $. Geschätzte 6,3 Billionen $ davon waren in Steueroasen versteckt. Deloitte prognostiziert, dass sich der Reichtum der Dollarmillionäre bis 2020 auf insgesamt 202 Billionen $, also ungefähr das Vierfache des derzeitigen globalen BIP erhöht haben wird.[13]

Wie Ungleichheit unterschätzt wird

Die meisten einschlägigen Erhebungen zeigen, dass die Leute drastisch unterschätzen, wie groß die Ungleichheit in ihren Gesellschaften ist.[14] Grafik 1.7 entstammt einer Studie von Michael Norton und Dan Ariely. Der obere Balken zeigt die tatsächliche Vermögensverteilung in den Vereinigten Staaten. Die obersten 20 % besitzen 84 % des Nationalvermögens. Auf die nächsten 20 % entfallen etwa 11 %, und so weiter. Die untersten 20 % sowie folgenden 20 % tauchen in diesem Balken gar nicht auf, da ihr Anteil am Gesamtvermögen zu gering ist, um sich grafisch darstellen zu lassen! Der mittlere Balken gibt wieder, was eine Stichprobe von 5000 Amerikanern für die real existierende Verteilung hielt. Wie deutlich zu sehen ist, gingen sie irrtümlich davon aus, dass die obersten 20 % weniger als 60 % besitzen. Aber obwohl sie die tatsächliche Ungleichverteilung in ihrer Gesellschaft radikal unterschätzten, waren die Befragten der Überzeugung, sie sei viel zu hoch. Der untere Balken zeigt, welche Verteilung sie für gerecht hielten.[15]

Grafik 1.7: Tatsächliche, geschätzte und ideale Vermögensverteilung in den USA
Quelle: M. I. Norton, D. Ariely: «Building a better America – wealth quintile at a time». Perspectives on Psychological Science, 6(1), 2011, S. 9–12.

Ganz ähnlich in Großbritannien: Bei einer vom Meinungsforschungsinstitut ICM durchgeführten Befragung von 2034 Personen waren diese der Meinung, idealiter sollte das oberste Fünftel 25 %, das untere Fünftel 15 % des Vermögens besitzen. Sie schätzten dagegen, dass dem obersten Fünftel 40 %, dem untersten Fünftel 20 % gehören. Aber tatsächlich hält das oberste Fünftel 60 % des Vermögens (einschließlich Altersrenten), das unterste Fünftel weniger als 1 %![16]

Wer in Großbritannien zu den 1 % mit dem höchsten Nettoeinkommen nach Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen gehören will, muss es auf mindestens 80.000 £ pro Jahr bringen.[17] Aber im Durchschnitt haben die obersten 1 % ein Bruttoeinkommen von 250.000 £, wobei manche natürlich weit über dem Durchschnitt liegen. In den Vereinigten Staaten durfte man sich 2012 mit einem Mindesteinkommen von 393.941 $ vor Steuern zu den obersten 1 % rechnen, deren Durchschnittseinkommen freilich bei 1,26 Millionen lag.[18] Das Einkommen innerhalb der obersten 1 % ist also seinerseits höchst ungleich verteilt. Erst mit mindestens 1,55 Millionen $ gehörte man 2012 zu den obersten 0,1 % und erst mit 7,2 Millionen zu den obersten 0,01 %. Je reicher sie sind, desto rascher ist zudem der Anteil der Reichen am Nationaleinkommen in den letzten vierzig Jahren gewachsen.

Je reicher die Reichen, desto größer der Anteil der Finanzwerte – Aktien, Anleihen und andere Finanzanlagen – an ihrem Wohlstand. Während Finanzvermögen bei den unteren 50 % der Vermögensverteilung keine 4 % des Gesamtvermögens ausmachen, sind es 13 % bei den obersten 10 % – mit einer sehr ausgeprägten Konzentration des Finanzvermögens an der Spitze der 1 %.

Die 1000 Reichsten sind in den letzten fünfzehn Jahren nicht nur sehr viel reicher geworden. Nach einem kurzen Einbruch im Gefolge der Krise ist ihr Reichtum im Verhältnis zu den anderen zudem wieder rascher gewachsen. 2010 gab es in Großbritannien 53 Milliardäre, 2014 waren es schon 104. In den Vereinigten Staaten haben die 1 %, wie Emmanuel Saez gezeigt hat, in der «Erholungsphase» von 2009 bis 2011 tatsächlich auf Kosten der 99 % zugelegt. Es war also offenbar nicht die breite Mehrheit, die sich da erholt hat. Allein 2009–2010 haben die 0,01 % (das oberste Zehntausendstel) 37 % dieses zusätzlichen Einkommens abgeschöpft, mit einem Durchschnittszuwachs von 4,2 Millionen $ pro Haushalt.[19] Die 400 reichsten amerikanischen Haushalte besitzen allein so viel wie die unteren 50 % der Bevölkerung. Der Kasten zeigt, wie sich die Situation in Großbritannien entwickelt hat.

Gesamtvermögen der 1000 reichsten Menschen in Großbritannien

1987=98 Milliarden £

2008=413 Milliarden £

2010=336 Milliarden £

2012=414 Milliarden £

2013=450 Milliarden £

2014=519 Milliarden £

2015=547 Milliarden £

Quelle: Sunday Times Rich List

547 Milliarden £ – das würde ausreichen, um für 3,7 Jahre das staatliche Rentensystem oder für 4,2 Jahre das öffentliche Gesundheitswesen in Großbritannien zu finanzieren.[20] Es ist 9,8 Mal mehr als die jährlichen Sozialausgaben des Landes. Man muss einen Moment innehalten, um die Größenverhältnisse auf sich wirken zu lassen: Großbritannien hat 63,9 Millionen Einwohner – und doch könnten viele ihrer wichtigsten Bedürfnisse allein durch den Reichtum der reichsten 1000 mehrfach erfüllt werden. Wir müssen uns also vergegenwärtigen, dass die Kosten des britischen Renten- und Gesundheitssystems, um das viele sich wegen der Alterung der Bevölkerung Sorgen machen, durch den jährlichen Vermögenszuwachs der Superreichen problemlos beglichen werden könnten – eine aberwitzige und obszöne Fehlallokation von Ressourcen. Und wie kommt es, dass wir das Wachstum des Finanzsektors feiern, das Wachstum des Gesundheitssektors dagegen als Problem behandeln?

Glaubt man der Website Bloomberg Billionaires,[21] so verfügten 2012 die 100 reichsten Milliardäre der Welt über 1,9 Billionen $, nachdem sie allein in diesem Jahr um 240 Milliarden reicher geworden waren. Berechnungen von Oxfam zufolge könnten schon 66 Milliarden, also ein Viertel davon, dafür sorgen, dass niemand mehr auf dieser Erde unter der Armutsgrenze von 1,25 $ leben müsste.[22]

Wer sind die Reichen?

Je reicher die Reichen, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um Männer handelt. 84 % der obersten 1,0–0,1 % in Großbritannien und mehr als 90 % der reichsten 0,1 % der Steuerzahler (etwa 47.000 Erwachsene) sind männlichen Geschlechts. Die obersten 1 % Großbritanniens leben hauptsächlich in London und im Südosten Englands, wo die Spitzen der meisten Unternehmenshierarchien sitzen. In der unteren Hälfte der obersten 1 % finden sich kleinere Unternehmensbesitzer, Topmanager und Spitzenverdiener aus dem Gesundheitswesen, aber je mehr man sich innerhalb der 1 % nach oben bewegt, desto mehr Vertreter des Finanz- und Immobiliensektors trifft man, und desto größer wird auch der Anteil des Einkommens aus Kapitalgewinnen, Dividenden, Aktien, Anleihen und anderen Finanzanlagen.

Mit einem Nettovermögen von 76 Milliarden $ ist Microsoftgründer Bill Gates laut Forbes-Rangliste der reichste Mensch der Welt. Zweiter ist mit 72 Milliarden $ Carlos Slim Helu, der die Liste lange angeführt hat. Der Mexikaner hatte die Telekommunikationsbranche seines Landes übernommen, als sie privatisiert wurde – ein hübsches Beispiel für die Folgen der Privatisierung von Staatsmonopolen. Warren Buffett, dessen freimütiges Bekenntnis zum Klassenkampf wir unserer Einleitung vorangestellt haben, liegt auf dem vierten Platz. Die reichste Frau ist, auf Rang neun, Christy Walton, die einen Teil des Walmart-Vermögens geerbt hat. Drei weitere Mitglieder der Walmart-Familie sind unter den ersten 20. Rupert Murdoch, der Medienzar, liegt auf dem 78. Platz.[23]

Berühmtheiten finden sich unter den Reichen und Superreichen sehr wenige. Steven Spielberg, mit 3 Milliarden $ der Wohlhabendste, kommt nur auf Platz 337 der Forbes-Liste. Die nächste ist Oprah Winfrey, die mit 2,7 Milliarden $ den 442. Platz hält. In Großbritannien versucht die Sunday Times häufig mit Fotos von Prominenten ihre Rich List an den Mann zu bringen. Aber auch dort schaffen es die wenigsten unter ihnen auf die vorderen Ränge – und der Höchstplatzierte, Paul McCartney mit seinen 665 Millionen £, verdankt Teile seines Reichtums der Heirat mit Nancy Shevell, einer amerikanischen Erbin. J. K. Rowling liegt auf Platz 148, die Beckhams auf 395. Die meisten der Superreichen auf den Rängen vor ihnen sind der großen Mehrheit der Briten nicht bekannt.

Die sechs Reichsten in Großbritannien sind sämtlich dort lebende Ausländer, die man durch günstige Steuerkonditionen angelockt hat: Alisher Usmanov (Platz 1 mit 13,3 Milliarden £), der Russlands größten Eisenerzproduzenten besitzt; auf dem zweiten Platz liegt mit Leonard Blavatnik ebenfalls ein Russe, der in eine ganze Reihe von Industrien (Musik, Öl, Aluminium, Chemikalien) investiert hat; den dritten Platz belegen die Hinduja-Brüder, die den Mischkonzern ihres Vaters geerbt haben, mit Beteiligungen an Energie-, Automobil- und Rüstungsunternehmen in Indien und Übersee; Lakshmi Mittal, auf dem vierten Platz, ist ein in Indien geborener Stahlmagnat, der ein Vermögen nicht zuletzt dadurch gemacht hat, dass er frühere sowjetische Staatsunternehmen aufgekauft hat, als sie privatisiert wurden; Roman Abramovich, Fünfter und den Briten vor allem als Besitzer des FC Chelsea bekannt, ist ein aus Russland stammender Investor mit Beteiligungen in einer ganzen Reihe von Wirtschaftszweigen, vor allem Anteilen an Ölkonzernen; der in Norwegen geborene zypriotische Staatsbürger John Fredriksen (Öl und Besitzer einer großen Tankerflotte) liegt auf dem sechsten Platz. Non-domiciles wie die Genannten, die in Großbritannien wohnen, aber dort nicht «dauerhaft sesshaft» sind, sind Nutznießer einer Regel, die es nur in Großbritannien und Irland gibt. Wer einen anderen Wohnsitz nachweisen kann, ist von der britischen Steuer auf Einkommen und Kapitalgewinne im gesamten Ausland befreit, vorausgesetzt, er bringt sie nicht ins Land.[24] Platz 8 belegt die reichste in Großbritannien geborene Person, der Duke of Westminster, mit 7,8 Milliarden £, der Grund- und Immobilienbesitz in Lancashire, Cheshire, Schottland, Kanada und Londoner Toplagen geerbt hat.[25] Obwohl nur eine Minderheit der Superreichen sich in erster Linie als Finanzinvestoren begreift, sind doch die meisten, die in anderen Wirtschaftszweigen tätig sind, zugleich stark in spekulative Finanzgeschäfte involviert[26] – und natürlich beteiligen sie sich auch an Stahl-, Energie- und Telekommunikationsunternehmen um der Finanzgewinne willen.

Warum hat sich der Anteil der Reichen vergrößert?

Die Rückkehr der Reichen in den letzten vier Jahrzehnten war eng mit bestimmten Entwicklungen des Kapitalismus verknüpft. Die wichtigste war der Aufstieg einer neuen politisch-ökonomischen Orthodoxie, des Neoliberalismus.[27] Von Margaret Thatcher und Ronald Reagan offensiv eingeführt, ist er unter ihren Nachfolgern mehr oder weniger klammheimlich ausgebaut worden – von New Labour-Vertretern wie Konservativen, von Demokraten wie Republikanern. Heute, nach dem Crash von 2007/08 und der folgenden Rezession, also just in dem Augenblick, da er vor aller Augen gescheitert ist, wird der Neoliberalismus mit neu erstarkter Entschlossenheit in die Tat umgesetzt. Sein Siegeszug hat drei Kernelemente:

1. Märkte werden als Optimal- oder Standardform wirtschaftlicher Organisation begriffen – die umso besser funktioniert, je weniger man sie reguliert. Glaubt man der neoliberalen Orthodoxie, so belohnen Wettbewerbsmärkte Effizienz, bestrafen Ineffizienz und schaffen damit «Anreize» zur Leistungssteigerung. Regierungen und der öffentliche Sektor dagegen sollen dem Markt, auf dem die Dinge sich von selbst regeln, weit unterlegen sein. Sie neigen zum Monopolismus und leisten dem Schlendrian und der Unwirtschaftlichkeit ebenso Vorschub wie dem Nepotismus. Daher sollten Regierungen so viel wie irgend möglich privatisieren und die Finanzmärkte deregulieren. Arbeitsmärkte müssen «flexibel» sein – eine beschönigende Vokabel für unsichere Arbeitsplätze mit geringer Lohnstabilität und fehlender Beschäftigungsgarantie. Und wenn sich Teile des öffentlichen Sektors schlecht privatisieren lassen, dann müssen zumindest Ranglisten geschaffen, also Individuen, Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Museen etc. zum Wettbewerb um Geldmittel genötigt und für ihre Platzierung belohnt oder aber bestraft werden. Demokratie soll sich in vernünftigen Grenzen halten, denn die Wahlurne ist anders als die Märkte kein probates Mittel, komplexe Wirtschaftssysteme in den Griff zu bekommen; und durch das, was sie kaufen und verkaufen, können die Bürger ihren Bedürfnissen sehr viel besser Ausdruck verleihen als durch irgendwelche Stimmzettel. Dass Neoliberale ihre antidemokratische Agenda lieber nicht offen eingestehen, versteht sich dabei von selbst.

2. Der Aufstieg des Neoliberalismus geht mit einer politischen und kulturellen Verschiebung einher, die seinem Marktfundamentalismus entspricht. Durch eine Reihe unscheinbarer Veränderungen werden wir peu à peu dazu getrieben, unser Denken und Handeln der Marktrationalität anzugleichen. Mehr und mehr sprechen die Medien uns als eigensüchtige Konsumenten und gewitzte Investoren an, die keine Möglichkeit auslassen, ihr Einkommen durch smart investments aufzustocken. Risiko und Verantwortung muss jeder selber tragen. Arbeitsplatzmangel etwa wird nicht mehr als solcher anerkannt, geschweige denn als etwas begriffen, das in der Verantwortung des Staates liegt. Es gibt nur individuelles Versagen, nur «Drückeberger» und «Verlierer», die eben unfähig sind, Arbeit zu finden. Keine Ungerechtigkeit, nur Fehlentscheidungen und glücklose Versager. Längst bringt das Wort loser kein Mitgefühl mehr, sondern bloß noch Verachtung zum Ausdruck.

Wer nicht in der Lage ist, einen Job zu finden, mit dem er über die Runden kommt, und darum den Sozialstaat braucht, wird an den Rand gedrängt, gemaßregelt und als Sozialschmarotzer angeprangert. Die staatlichen Gesundheits- und Rentensysteme werden abgebaut und durch private Krankheits- und Altersvorsorge ersetzt. Jeder ist auf sich gestellt – frei zu wählen, frei zu gewinnen oder zu verlieren, je nachdem, ob er sich in einer Welt voller Gelegenheiten und Gefahren zurechtfindet oder eben nicht. Statt uns als Mitglieder eines Gemeinwesens zu betrachten, zu dem jeder nach seinen Kräften beiträgt, statt Risiken zu streuen und einander unter die Arme zu greifen, werden wir dazu angehalten, uns als Konkurrenten zu begreifen, die niemandem außer sich selbst Verantwortung schulden. Sie sind es leid, sich bei der Gesundheitsversorgung hinten anzustellen? Klicken Sie hier. Sie möchten Ihrem Kind einen Vorteil verschaffen? Zahlen Sie ihm doch Privatunterricht. Wir sollen um alles konkurrieren und uns in der Vorstellung wiegen, was nur den Bessergestellten offen steht, sei für jeden erreichbar – als könnten, wenn sie es nur wollen, alle auf einmal gewinnen.

Man erwartet von uns, dass wir uns selbst als Waren behandeln, die auf dem Arbeitsmarkt angeboten werden, aber auch als Ich-AG, als Unternehmer in eigener Sache und Selbstvermarkter. Daher der wachsende Kult um das curriculum vitae, daher der Boom der Selbstinszenierung. Erziehung und Bildung verkommen zusehends zu Mitteln dafür, Jugendliche nach diesem Bild zu modeln. Manche – und wahrscheinlich viele unter den Lesern dieses Buchs – mögen sich gegen solche Bestrebungen sperren, aber sie ganz zu vermeiden, ist in einer neoliberalen Gesellschaft unmöglich, nachdem wir in so vielen Lebensbelangen gar keine andere Wahl mehr haben, als in Ranglisten miteinander zu wetteifern und uns auf Märkten zu bewegen, die man uns als Freiheitsspielraum anpreist.

3. Der Neoliberalismus hat einen Wandel der Klassenstruktur der Länder hervorgebracht, die er am stärksten durchdrungen hat. Dieser Wandel besteht nicht allein in einer Verschiebung von Macht und Wohlstand zugunsten der Reichen, wie sie am deutlichsten in einer Schwächung der organisierten Arbeiterschaft und der Bereicherung der 1 % in den industrialisierten Ökonomien zum Ausdruck kommt. Er verschiebt auch die Macht innerhalb der reichen Klasse: Von denen, die ihr Geld vorwiegend durch Verfügung über die Produktion von Gütern und Dienstleistungen machen, zu denen, deren Einkommen sich vorwiegend der Verfügung über bereits existierende Vermögenswerte verdankt, die Mieten und andere ökonomische Renten, Dividenden oder Kapitalgewinne abwerfen, einschließlich solcher aus der Spekulation mit Finanzprodukten. Der traditionelle Begriff für Vertreter dieser Gruppe ist «Rentier». Viele der unter 1. und 2. genannten Veränderungen kommen ihnen zugute. Neoliberalismus als politisches System dient den Interessen der Rentiers – nicht zuletzt dadurch, dass er zu Schulden der 99 % bei den 1 % führt. Mehr dazu im Ersten Teil.

Mit den beiden erstgenannten Elementen der neoliberalen Revolution haben sich viele kritisch auseinandergesetzt; dem dritten hat man bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.

Ein anderer Ansatz: «Moralische Ökonomie»

Die Deregulierung und das spektakuläre Wachstum des Finanzsektors sind Schlüsselmomente der neoliberalen Politik, des Höhenflugs der Reichen – und der größten Krise seit der Weltwirtschaftskrise von 1929. Es gibt eine kleine Lawine von Büchern zur Finanzkrise von 2007. Manche sind erhellend, viele bieten eher journalistisch aufgepeppte Anekdoten zu einer Kette von Finanzkatastrophen und ihren Schlüsselfiguren. Manche Kritiker haben die Hybris des Finanzsektors angeprangert und Missmanagement, mangelnde Urteilskraft und fragwürdige Rechtsgrundlagen ausgemacht. Aber einige haben die Kreditkrise und die Rezession auch als Ausdruck eines tiefer liegenden Problems, nämlich der Krisenanfälligkeit des Kapitalismus begriffen.

Warum wir uns die Reichen nicht leisten können ist nicht nur ein Buch über die Finanzkrise, so schlimm sie auch sein mag. Es handelt von dem, was solchen Krisen zugrunde liegt und sie hervorbringt, vom Aufbau unserer Wirtschaft selbst. Es begreift die Wirtschaft nicht bloß als Maschine, die manchmal stockt oder ausfällt, sondern als komplexes und die ganze Welt umspannendes Beziehungsgeflecht, in dem Menschen als Produzenten von Gütern und Dienstleistungen, als Investoren, als Empfänger der unterschiedlichsten Arten von Einkommen, als Steuerzahler etc. interagieren. Die Probleme, die es beim Namen nennt, sind so alt wie der Kapitalismus selbst, so sehr sie sich auch in den letzten vier Jahrzehnten im Zuge der Aufblähung des Finanzsektors verschärft haben. Es widmet sich nicht allein der Irrationalität und dem Systemabsturz, sondern fragt auch nach der Gerechtigkeit und der moralischen Legitimation von Rechten und Praktiken, die wir für selbstverständlich halten. Es geht nicht bloß um die Frage, wie viel Menschen auf verschiedenen Positionen in der Wirtschaft jeweils bekommen sollten, sondern ob es überhaupt legitim ist, dass sie auf diesen Positionen sitzen. Ist es in Ordnung, dass sie tun dürfen, was sie tun?

Natürlich hat Kapitalismuskritik eine lange Tradition, in der sie ganz unterschiedliche Dinge ins Visier genommen hat: Entfremdung, Unsicherheit und Armut, die Tretmühle von Arbeit und Konsum, ökonomische Widersprüche, wirtschaftliche Unvernunft und Umweltzerstörung. Aus all diesen Kritiken kann man etwas lernen, aber heute, da die Macht der Reichen und die Ungleichheit so sehr gewachsen sind, glaube ich, dass wir eine andere Angriffslinie brauchen, die sich auf die Institutionen und Praktiken konzentriert, die all das möglich gemacht haben. Zu viele Bücher, die sich mit ökonomischer Ungerechtigkeit und namentlich mit der Wirtschaftskrise beschäftigen, nehmen Institutionen und Praktiken als selbstverständlich hin, die alles andere als selbstverständlich sind. Dies ist ein Buch über die Ungerechtigkeit einer Reihe überkommener ökonomischer Gegebenheiten, die sich in der Krise zugespitzt hat.

Man könnte es als Beispiel einer «Moralischen Ökonomie» begreifen.[28] Dabei ist es ihm nicht um eine moralisierende Kritik der Gier zu tun, sondern darum, die moralische Rechtfertigung von Grundstrukturen unserer Wirtschaftsorganisation in Frage zu stellen. Es geht um das eklatante Missverhältnis zwischen dem, was manche sich nehmen können, und dem, was sie leisten, brauchen und verdient haben. Wie viel jemand bekommen sollte, ist eine schwierige Frage, zumal dann, wenn wir es davon abhängig machen, was ihm zusteht und wodurch er es sich verdient hat. Aber im Fall der Reichen lässt sich zeigen, dass es sehr viel mehr mit Macht als mit Leistung zu tun hat, was sie tatsächlich erhalten. Ich werde zu bedenken geben, dass der größte Teil ihres Einkommens sich einer Verfügung über Vermögenswerte wie Boden oder Geld verdankt, die sie dazu nutzen, einen Reichtum abzuschöpfen, den andere produziert haben. Ein Großteil ihres Einkommens ist unverdient. Im Laufe der letzten 35 Jahre sind namentlich im Zuge der wachsenden Dominanz der Finanzwirtschaft oder der «Finanzialisierung», wie sie zuweilen genannt wird, die Reichen dadurch sehr viel reicher geworden, dass sie sich immer reicher sprudelnde Quellen leistungslos erworbenen, unverdienten Einkommens erschlossen haben.

In diesem Buch wird es nicht allein um Geld und Güter, sondern auch um die Sprache des Wirtschaftslebens gehen. Die Geschichte unserer modernen Wirtschaft ist auch eine der Auseinandersetzungen darüber, wie ökonomische Praktiken beschrieben oder kategorisiert werden sollten. Was wir für vertretbar oder unvertretbar halten, bleibt von diesem Sprachgebrauch nicht unberührt. Das Wort «Investition» legt eine ganz andere Bewertung nahe, als es die Worte «Spekulation» oder «Glücksspiel» tun. Wer würde nicht lieber Investor als Spekulant oder Spieler genannt werden? Aber was bedeuten solche Begriffe, und welche Praktiken entsprechen ihnen? Wenn es von einem Topmanager einer Bank heißt, er habe x Millionen «verdient», kann man sich durchaus die Frage stellen, was genau «verdient» in diesem Zusammenhang heißen soll. Am Ende nur das, was er herausholen, also an Reichtum abschöpfen konnte? Im Großen und Ganzen haben die Reichen und Mächtigen diesen Kampf um Wörter für sich entschieden. Wie wir über unser Wirtschaftsleben sprechen, ist eine systematische Verschleierung ihres Tuns. In ihrer Furcht vor allem, was ihnen als Kapitalismuskritik ausgelegt werden könnte, haben sich Mainstream-Ökonomen, meist ohne entsprechende Absicht, als durchaus nützliche Komplizen erwiesen.

Um zu zeigen, warum wir uns die Reichen nicht leisten können, müssen wir auf ein paar grundlegende ökonomische Sachverhalte eingehen, aber auf andere und auch einfachere Weise, als das üblicherweise geschieht. Vor allem werden wir uns etwas vergegenwärtigen müssen, was in der modernen Mainstream-Ökonomie in Vergessenheit geraten ist. In der Wirtschaft geht es wesentlich um Versorgung. Es geht, wie Anthropologen und feministische Ökonominnen uns in Erinnerung gerufen haben, um die Frage, wie Gesellschaften sich mit dem versorgen, was zum Leben nötig ist.[29] Versorgung erfordert Arbeit, um Güter, von Nahrung und Unterkunft bis zu Kleidung und Zeitungen, hervorzubringen und Dienstleistungen wie Unterricht, Beratung, Information oder Pflege bereitzustellen. Und fast alle Versorgung erfordert soziale Beziehungen – zwischen Produzenten und Konsumenten, Kreditgebern und Kreditnehmern etc. Es sind diese Beziehungen, in denen Versorgung organisiert wird. Für manche Arten von Versorgung braucht es Märkte, für andere nicht. Die Grenze zwischen Markt und Nicht-Markt fällt nicht mit den Grenzen der Wirtschaft zusammen. Jemandem eine Mahlzeit zuzubereiten ist auch dann, wenn es sich um unbezahlte Arbeit handelt, ein ebenso ökonomischer Akt wie das Verkaufen von Pizza, Computern oder Lebensversicherungen. Die meisten Ökonomen und Politologen stellen sich Wirtschaftsakteure automatisch als selbständige, arbeitsfähige Erwachsene vor. Sie vergessen, dass wir alle als hilflose Säuglinge angefangen haben, unfähig, uns selbst zu versorgen, abhängig von anderen. Und sie vergessen, dass wir alle früher oder später, ob wegen Krankheit, Behinderungen oder schieren Alters, keinen Beitrag mehr zur Versorgung unserer selbst und anderer werden leisten können. Wir werden unseren Eltern nie die ganze Arbeit zurückzahlen können, die sie für uns auf sich genommen haben, und das werden auch künftige Generationen nicht können. Angewiesenheit auf andere, insbesondere im Verhältnis zwischen den Generationen, ist integraler Bestandteil des Menschseins, eine Folge der Tatsache, dass wir soziale Tiere und damit zutiefst abhängig sind, dependent rational animals, wie es der Philosoph Alasdair MacIntyre genannt hat; wir können nicht aus eigener Kraft überleben.[30] Robinson Crusoe war darauf angewiesen, in der Gesellschaft aufgewachsen zu sein; ein neugeborener Crusoe hätte, auf sich selbst gestellt, allenfalls ein paar Stunden überlebt. Und wie Crusoe sind wir abhängig von natürlichen Ressourcen; wir können nicht gedeihen, wenn wir den Planeten zerstören.

Niemand wird Kindern das Recht absprechen wollen, von ihren Eltern ernährt («bezuschusst») zu werden, wenn sie zu jung sind, um irgendeine Gegenleistung zu erbringen. Aber wie sieht es aus, wenn ich zum Beispiel das Unternehmen kaufe, das Sie mit Wasser versorgt, um 10 % auf Ihre Rechnung draufzuschlagen, so dass Sie mich bezuschussen und meinen Reichtum mehren? Wäre das ebenfalls eine vertretbare Form von Abhängigkeit? Und wenn ich einen Park oder einen Strand kaufe, den Sie zeit Ihres Lebens aufgesucht haben, um Sie für den Zugang zahlen zu lassen, fänden Sie das in Ordnung?

Abhängigkeit kann vertretbar oder unvertretbar sein. Es kommt darauf an. Weil wir voneinander abhängig sind, stellt sich stets die Frage der Angemessenheit und Gerechtigkeit, sobald es um ökonomisches Handeln geht. Werden Sie angemessen bezahlt? Ist es richtig, wenn manche so viel/wenig bekommen und so viel/wenig Steuern zahlen? Sollten Studierende für ihr Studium bezahlen müssen? Sollten Sie Zinsen auf Erspartes erhalten? Sollte es mehr/weniger/kein Kindergeld geben? Mehr Geld für Pflegekräfte oder nicht? Wer sollte die Kosten tragen, wenn eine Firma Bankrott geht? Und wer sollte dafür zahlen, ein verlassenes Industriegelände zu reinigen? Wer für Luftverschmutzung zahlen? Diese und ähnliche Fragen sind Fragen einer Moralischen Ökonomie. Ich glaube, dass wir sehr viel mehr über solche Fragen nachdenken sollten. Wir sollten mehr darüber nachdenken, ob die uns vertrauten ökonomischen Strukturen und Vereinbarungen gerecht und vertretbar sind, statt sie als unverrückbare Tatsachen einfach hinzunehmen – oder, genauso schlimm, als etwas zu behandeln, das gar nicht in die Zuständigkeit der Vernunft fällt, sondern der Beliebigkeit subjektiver «Meinungen» und «Wertungen» überlassen bleibt.[31]

Es kommt vor, dass jemand aus gutem Grund mehr gibt als bekommt oder mehr bekommt als gibt, wie im Fall der Eltern-Kind-Beziehung. Aber manchmal gibt es dafür keinen guten, sondern nur den einen Grund: Macht. Es gibt zum Beispiel keinen guten Grund dafür, dass sexistische Männer als Trittbrettfahrer von der Hausarbeit von Frauen profitieren. Dieses «Trittbrettfahrerproblem» tritt verstärkt bei sehr ungleicher Machtverteilung zwischen Menschen oder Organisationen auf. Macht und Ungleichheit entstehen häufig daraus, dass Minderheiten die Kontrolle über wichtige Güter haben, auf die andere angewiesen sind.

Weil sie es können

So wichtig es auch ist – über Moralische Ökonomie nachzudenken ist das eine. Wirtschaftliche Gegebenheiten zu erklären das andere. Wie wir unser Wirtschaftsleben eingerichtet haben, ist selten Resultat demokratischer Entscheidung oder sorgfältiger Abwägung der Frage, was recht und billig ist. Es ist meist Resultat von Machtverhältnissen. Weshalb zahlen Topmanager großer Unternehmen sich selbst so gewaltige Summen? Weil sie es können. Die Argumente, die sie zu ihrer Rechtfertigung aufbieten mögen, stehen nicht nur ausnahmslos auf schwachen Füßen, sie sind auch belanglos. Ihre Gehaltserhöhungen bekommen sie auch dann, wenn alle sie als unangemessen empfinden. Auch ebbt im Allgemeinen die lautstarke Empörung über ihre Vergütungsexzesse nach ein, zwei Wochen wieder ab. Und wenn wir uns umgekehrt fragen, weshalb Pflegekräfte so wenig für eine Arbeit bekommen, die anderen unübersehbar hilft, dann lautet die Antwort: Weil das alles ist, was sie in Anbetracht ihrer beschränkten Macht bekommen können. Was wir glauben, dass sie aufgrund ihres Beitrags bekommen sollten, ist das eine, was sie tatsächlich bekommen können, ist das andere. Rechtfertigungen und Erklärungen sind für gewöhnlich zwei ganz verschiedene Dinge. Viele Argumente, die man zugunsten gegebener wirtschaftlicher Verhältnisse anführen kann, sind erstaunlich schwach – aber insbesondere dann, wenn die Leute diese Verhältnisse erst einmal als naturgegeben hinnehmen («so sind die Dinge eben»), können sie sich durch schiere Macht am Leben erhalten.

Der Grundbesitzer und der Fremde

Ein Beispiel für eine ökonomische Institution, die wir für selbstverständlich halten: privater Grundbesitz einer Minderheit. Vielleicht kennen Sie die Geschichte von dem Fremden, der das Land eines Grundbesitzers betritt. «Verlassen Sie mein Land», fordert ihn der Besitzer auf, worauf der Fremde ihn fragt, woher er sein Land habe. «Von meinem Vater», lautet die Antwort. «Und woher hatte er es?» «Von seinem Vater», der es von seinem Vater hatte, und so weiter. «Aber der eine Ihrer Vorfahren, der es als Erster besessen hat, wie ist er an das Land gekommen?» «Er hat mit jemandem um es gekämpft.» «Gut», sagt der Fremde, «dann werde ich mit Dir um es kämpfen. Wenn es in Ordnung war, das Land so in Besitz zu nehmen, dann muss es auch in Ordnung sein, es auf dieselbe Weise zurückzuerobern. Und wenn es nicht in Ordnung war, nun, dann sollte es zurückerobert werden.»

Die Pointe ist bemerkenswert, aber unklar bleibt, wie eine bessere Alternative aussehen könnte. Wäre privater Grundbesitz in Ordnung, wenn der Grund gleichmäßig verteilt würde und jeder etwas davon hätte? Oder sollte er in Staatsbesitz sein, so dass jeder ein Grundstück vom Staat pachten und über die Verwendung der Pacht demokratisch entschieden werden könnte? Zumindest gelingt es der Geschichte, uns wachzurütteln und vor Augen zu führen, dass die Institution des Grundbesitzes in den Händen einer Minderheit, die wir so kritiklos hinnehmen, alles andere als selbstverständlich ist. Wir sollten in diesen Krisenzeiten viel öfter wachgerüttelt werden.

Die Mainstream-Ökonomie behandelt die Eigentümlichkeiten des Kapitalismus, einer relativ jungen Wirtschaftsordnung, als seien sie universal, zeitlos und vernunftgemäß. Sie versteht den Markttausch als Hauptmerkmal allen ökonomischen Handelns,[32] während Produktion oder Arbeit – notwendige Bedingungen unserer Versorgung – als sekundär behandelt werden. Auch legt sie das ganze Augenmerk auf die Beziehung zwischen Menschen und Waren (wovon hängt es ab, wie viele Orangen ich kaufe?), während die darin schon vorausgesetzten Beziehungen unter Menschen kaum Beachtung finden. Mathematischen Modellen, die sich auf Wenn-Schweine-fliegen-könnten-Hypothesen stützen, misst sie größeres Gewicht bei als empirischer Forschung. So schenkt sie auch real existierenden Wirtschaftssystemen keine große Aufmerksamkeit. Über Geld und Schulden zum Beispiel hat sie wenig zu sagen. Vorhersehbar war denn auch, dass diese Wissenschaft auf der ganzen Linie versagt hat, als sie diese Krise hätte vorhersehen sollen. Als die Queen fragte, weshalb keiner das Unheil heraufziehen sah, war die Betretenheit der Zunft mit Händen zu greifen.

Ich werde an die Arbeit von Denkern anknüpfen, die eine kritischere Sicht bevorzugt haben, in chronologischer Reihenfolge: Aristoteles, Adam Smith, Karl Marx, John Maynard Keynes, der christliche Sozialist R. H. Tawney und viele neuere sogenannte «heterodoxe Ökonomen» und politische Kommentatoren. Von ihnen haben tatsächlich viele, auch das ist bezeichnend, die Krise kommen sehen.

Kapitalismus – eine durchwachsene Bilanz

Dies ist eine Kritik nicht nur der Reichen, sondern auch eines Kapitalismus, der freilich in allen erdenklichen Hinsichten gut und schlecht ist. So gibt es insbesondere keinen Zweifel daran, dass er einen nie zuvor gekannten technologischen wie wissenschaftlichen Fortschritt gezeitigt und, wie ihm schon Marx und Engels im Kommunistischen Manifest zugutehielten, zur Integration vormals weitgehend geschiedener Weltregionen geführt hat. Was Marx und Engels nicht vorhergesehen haben, ist die Verbesserung der Lebensbedingungen vieler Arbeiter, von denen sich herausgestellt hat, dass sie ausgebeutet besser dran waren als unausgebeutet. Das heißt freilich nicht, es habe keine Verlierer gegeben und eine bessere Alternative zum Kapitalismus sei nicht denkbar.

Medien haben eine fatale Vorliebe für schlichte Erzählungen, die vom Kampf des Guten mit dem Bösen berichten, gegenüber Darstellungen, die unsere Welt als komplexe Mischung beider zeigen. Man würde die in diesem Buch vorgetragene Kritik missverstehen, wollte man ihr eine Leugnung der Errungenschaften des Kapitalismus oder eine Legitimierung der Staatssozialismen des früheren Ostblocks unterstellen. «Weder Washington noch Moskau (das von heute so wenig wie das von früher!)» – so würde meine Devise lauten. Eine russische Weisheit jüngeren Datums sagt: Im Kommunismus hat Marx sich gründlich getäuscht, aber was den Kapitalismus anlangt, da hatte er verdammt recht! Dass er den Kapitalismus völlig durchschaut hat, glaube ich nicht, aber seine Überlegungen zur Entstehung von Ungleichheiten sind erhellender als das meiste, was man dazu sonst findet. Ich werde mich indessen auch auf eine ganze Reihe anderer Denker stützen, und viele von ihnen sind mehr oder weniger scharfe Kritiker von Marx. Wenn Sie sich fragen, ob ich Smithianer, Marxist oder Keynesianer bin, wird meine Antwort stets lauten: Ja, wo sie mir richtig, und nein, wo sie mir falsch zu liegen scheinen.

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