Warum wir uns die Reichen nicht leisten können. Einführung – Fortsetzung
Andrew Sayer
Vom Glauben an eine gerechte Welt
Für Sozialdemokraten wie für Konservative ist es zum Glaubenssatz geworden: Die Reichen sind nicht reich, weil andere arm sind. Wer es politisch zu etwas bringen will, ist gut beraten, dieses Credo nachzubeten. Es hilft, die Geldgeber der eigenen Partei ebenso bei Laune zu halten wie die Medien, die im Besitz von Superreichen sind. Beweise oder Argumente braucht es offenbar keine; es genügt, das Glaubensbekenntnis abzulegen, als würde man auf die Bibel schwören. Dieses Buch tritt den Beweis des Gegenteils an. Was immer sie gern glauben würden, die Reichen sind größtenteils reich auf Kosten anderer.
So sehr nicht nur Reiche, sondern auch bloß Gutsituierte sich in der Vorstellung wiegen mögen, aufgrund eigener Leistung und besonderer Fähigkeiten zu verdienen, was sie haben, so sehr übersehen sie dabei, welche entscheidenden Vorteile es ihnen verschafft, in einem reichen Land und oft auch einer wohlhabenden Familie geboren zu sein. Auch vergessen sie nur allzu gern, dass sie von Gütern profitieren, die Menschen aus armen Ländern hergestellt oder angebaut haben – Menschen, die nicht weniger hart arbeiten und es wahrlich verdient hätten, mehr zu verdienen, mangels besserer Möglichkeiten aber sehr viel weniger bekommen.
Nicht nur die Reichen freilich leben in dem Glauben, ihren Reichtum verdient zu haben. Auch weite Teile der übrigen Bevölkerung denken so. «Sie haben es sich hart erarbeitet» ist eine Vorstellung, die selbst unter Geringverdienern weit verbreitet ist – ein Beispiel für das, was der amerikanische Psychologe Melvin Lerner als «Glaube an eine gerechte Welt» bezeichnet hat,[33] der sich in wirtschaftlichen Belangen in der Vorstellung ausspricht, dass man uns zahlt, was wir verdienen, und wir verdienen, was man uns zahlt. Zu glauben, dass die Reichen ihren Wohlstand verdienen, fühlt sich auf wohltuende Weise großzügig an, obwohl der entsprechende Gedanke, dass auch die Armen ihr Los verdient haben, nicht ganz so angenehm ist. Wie Lerner angemerkt hat, ist der Glaube an eine gerechte Welt eine Täuschung, eine Art von wishful thinking. Wer würde nicht gern in einer gerechten Welt leben, in der Bedürfnisse erfüllt und nicht Leistungslosigkeit, sondern Leistung und Verdienst belohnt würden? Aber daraus folgt nicht, dass wir in dieser Welt tatsächlich leben.
Seit dem Crash von 2007 begegnet man den Reichen verständlicherweise kritischer, vor allem wenn sie Banker sind. Und doch haben neuere Erhebungen gezeigt, dass die öffentliche Meinung noch sehr viel kritischer denen ganz unten gegenübersteht, die als «Prolls», «Sozialschmarotzer», «Arbeitsverweigerer», «Kindergeldschnorrer» und so fort geschmäht werden. Es scheint, als stünden, je ungleicher eine Gesellschaft ist, ihre Mitglieder der Ungleichheit desto unkritischer gegenüber![34]
Reichenherrschaft
Ökonomische Macht ist auch politische Macht, Verfügung über Werte wie Land oder Geld als solche ein Politikum. Wer auf den «Kommandohöhen der Wirtschaft» sitzt (und das heißt mehr und mehr: im Finanzsektor) kann Druck auf Regierungen ausüben, demokratisch gewählte nicht ausgenommen, und sie nach seiner Pfeife tanzen lassen. Er kann damit drohen, sein Geld außer Landes zu bringen, Regierungen zu erdrückenden Zinssätzen Geld leihen, sie zum Abbau der Finanzmarktregulierung drängen, sein Geld in Steueroasen verstecken und im Austausch gegen Parteispenden großzügige Steuererleichterungen fordern.
Enthüllungsjournalisten haben den Personalaustausch zwischen Politik und Schlüsselpositionen in der Wirtschaft ebenso ans Licht gebracht wie den Beitrag von Interessenverbänden zum Fortbestand eines deregulierten Finanzwesens, selbst nach dem Crash. Namhafte Finanzinstitute waren an illegaler Geldwäsche, Insidergeschäften und Zinsmanipulationen beteiligt. Und doch wurde in Großbritannien niemand strafrechtlich verfolgt. Wo überhaupt Banken Strafen zahlen mussten, sind die Bußgelder nicht verhängt worden, sondern waren Ergebnis von Verhandlungen, also «Vergleiche»! Auf schäbigste Weise wurden Gewinne eingesteckt, Verluste dagegen auf eine Allgemeinheit abgewälzt, die dadurch empfindliche Einkommenseinbußen hinnehmen musste und sich vieles nicht mehr leisten konnte. Natürlich kommen viele Politiker aus einer Oberschicht, in der es so selbstverständlich wie das Atmen ist, sich auf die Seite der Reichen zu schlagen. Aber auch wenn sie anderer Herkunft sind – die Mehrheit der Bevölkerung wird von unseren «Repräsentanten» immer weniger repräsentiert. Selbst für den Fall, dass sie dabei nicht mitmachen wollen, haben sie es mit einem Umfeld zu tun, in dem finanzielle Interessen überwiegen.
Geld ausgeben
Das Problem mit den Reichen ist nicht nur, wie sie zu ihrem Geld kommen, sondern auch, wie sie es ausgeben. Ihre massiven Ausgaben für Luxusgüter bleiben nicht ohne ökonomische Folgen und halten die Produzenten davon ab, Güter und Dienstleistungen für die Bedürftigeren herzustellen – eine Vergeudung von Arbeit und knappen Ressourcen. In manchen Fällen verschlimmern sie zusätzlich die Lage der Menschen mit niedrigen Einkommen, zum Beispiel dann, wenn sie die Immobilienpreise in unerschwingliche Höhen treiben. Die Superreichen besitzen so viel, dass sie es beim besten Willen nicht für Dinge ausgeben können, für die sie Verwendung haben. Daher speisen sie den Rest wieder in den Kreislauf der Spekulation ein, indem sie Grund- und Immobilienbesitz, Unternehmen oder finanzielle Vermögenswerte erwerben und damit wenig oder keine produktiven Investitionen tätigen, sondern nur noch mehr Reichtum abschöpfen, der von anderen produziert wurde.
Niemand schädigt die Erde mehr als die Reichen. Privatjets und mehrere Wohnsitze bedeuten einen massiven CO2-Ausstoß. Natürlich liegt leider auch der geringere CO2-Ausstoß, den die meisten von uns produzieren, in den reichen Ländern immer noch deutlich über dem, was unser Planet verkraften kann. Selbst wenn die monetären Kosten tragbar wären, können wir uns CO2- und verbrauchsintensive Lebensstile nicht leisten, wenn wir die galoppierende globale Erderwärmung aufhalten wollen.
Wir sind in ernsten Schwierigkeiten, nicht nur wegen der Wirtschaftskrise, sondern weil sie von einer größeren und bedrohlicheren Krisis überschattet wird: dem Klimawandel. Wir gehen im Allgemeinen davon aus, die Wirtschaftskrise könne nur durch Wachstum überwunden werden. Aber Wachstum beschleunigt zwangsläufig die globale Erwärmung. Die reichen Länder müssen sich auf «stationäre» Wirtschaften, ja auf Wachstumsrücknahme umstellen, um den Planeten zu retten – aber für den Kapitalismus ist Wachstum überlebenswichtig, es gehört gleichsam zu seiner DNA. Der sowjetische Staatssozialismus hat, was Umweltverträglichkeit anbelangt, auch nicht besser abgeschnitten. Wir brauchen ein anderes Modell.
Falls diese Schlussfolgerung düster klingt – es gibt auch eine wichtige gute Nachricht: Jenseits einer bestimmten Schwelle, die in den reichen Ländern die meisten Menschen schon erreicht haben, lässt sich das Wohlergehen durch immer mehr Wohlstand nicht mehr wesentlich steigern. Aber es steigert sich jenseits dieser Schwelle ganz erheblich durch mehr Gleichheit und weniger Stress, durch körperliche Betätigung und Geselligkeit. Es steigert sich, wenn wir uns um andere und andere sich um uns kümmern, wenn wir unsere Begabungen entfalten und unseren Interessen nachgehen, wenn wir unsere Projekte weiterverfolgen und die Welt jenseits der Grenzen eines engumschriebenen Berufslebens erkunden. Aus dem Hamsterrad auszusteigen, würde uns und der Erde sehr gut bekommen.
Gliederung
Das Grundargument dieses Buchs, das ich in meiner kurzen einleitenden Antwort vorgetragen habe, ist einfach. Die ausführlichere Antwort, die nun folgt, wird natürlich etwas komplizierter ausfallen, aber ich werde versuchen, die Komplexität auf das zu beschränken, was in der Praxis den größten Unterschied ausmacht. Häufig werden Ihnen Einwände durch den Kopf gehen. Manche werde ich unmittelbar zu entkräften suchen, auf andere erst eingehen können, nachdem ich eine Reihe von Argumenten vorgetragen habe, die eng miteinander verknüpft sind. Ich muss den Leser also um Geduld bitten. Die Antwort auf seine Bedenken mag zuweilen ein paar Seiten auf sich warten lassen.
Mit ein paar unbedeutenderen Einwänden und Vorbehalten werde ich mich in den Anmerkungen am Ende des Buchs auseinandersetzen. Dort finden sich auch die Quellen und Belege, auf die ich mich stütze. Der Haupttext sollte wohl am Stück, die eingeschobenen Kästen mit Beispielen und Erläuterungen dagegen können in beliebiger Reihenfolge gelesen werden.
Teil eins (Reichtum abschöpfen – ein Leitfaden) zeigt zunächst, wie sehr uns drei vertraute Wörter – Verdienst, Investition und Reichtum – in ökonomischen Fragen in die Irre führen und den Blick auf die Funktionsweise unserer Wirtschaft verstellen können. Er führt dann eine zentrale Unterscheidung ein, ohne die sich nicht verstehen lassen wird, aus welchen Quellen der Reichtum der Reichen sich speist: die Unterscheidung von verdientem und unverdientem Einkommen. Die folgenden Kapitel erläutern die unterschiedlichen Formen, die unverdientes Einkommen in unserer heutigen Wirtschaft annehmen kann. Schließlich komme ich auf ein paar verbreitete Argumente zu sprechen, die gern zur Verteidigung der Einkommen von Reichen vorgebracht werden – ihr Unternehmergeist etwa, ihre angebliche Fähigkeit, Arbeitsplätze zu schaffen und, technischer gesprochen, für effizientere wirtschaftliche Koordination zu sorgen.
Teil zwei (Die Reichen im Kontext) beschäftigt sich zunächst mit der Frage, inwiefern unser Wohlstand der Arbeit früherer Generationen geschuldet ist. Er untersucht dann, wovon unsere Arbeitseinkommen abhängen, und beleuchtet Implikationen der Unterscheidung hochqualifizierter von geringqualifizierten Arbeitern, die oft übersehen werden und maßgeblich zur Entstehung von Ungleichheit beitragen. Schließlich entlarvt er den Mythos der Chancen- oder Wettbewerbsgleichheit und mit ihm die Vorstellung, dass wir in einer Meritokratie leben, in der unsere gesellschaftliche Stellung sich unseren Leistungen und Fähigkeiten verdankt. Damit rückt er das Problem der Reichen in den umfassenderen Kontext der Reproduktion ökonomischer Ungleichheit.
Teil drei (Wie die Reichen reicher wurden) untersucht, wie in den letzten vierzig Jahren der Krise der Boden bereitet wurde und welche Rolle der Aufstieg der Reichen dabei gespielt hat. Er zeigt, wie die massive Aufblähung des Finanzsektors einer kleinen Minderheit die Gelegenheit zur unproduktiven Aneignung von Reichtum in einem nie gekannten Umfang bot. Und er erkundet die Quellen des Reichtums einer Reihe von Hauptgewinnern des Finanzbooms – Finanzvermittler, Vorstandsvorsitzende, große Grund- und Immobilienbesitzer.
Teil vier (Herrschaft von Reichen für Reiche) zeigt, mit welchen Mitteln eine Elite, die in erster Linie eine Finanzelite ist, die Demokratie unter ihre Herrschaft gebracht und dafür gesorgt hat, dass die Regierungen den Interessen der Reichen dienen – unter Einschluss des Interesses daran, ihren Reichtum in Steueroasen zu verstecken. Das erklärt auch den bemerkenswerten Erfolg, den die Reichen darin haben, andere für die Krise zahlen zu lassen und von dem abzulenken, was sie selbst getan haben und weiterhin tun.
Teil fünf (Unrechtmäßig erworben, auf Kosten aller ausgegeben) wirft einen kritischen Blick darauf, wie die Reichen ihr Geld ausgeben – auf eine Weise nämlich, die unsere Ökonomien aus dem Gleichgewicht bringt, Ressourcen wie Arbeitskraft vergeudet und andere dazu verleitet, ihrem verschwenderischen Konsum nachzueifern. Schlimmer noch, die Reichen sind eine Gefahr für unseren Planeten. Zuletzt geht es um den Nachweis, dass immer höherer Konsum nicht dazu führt, dass es uns in den reichen Ländern immer besser geht.
Die Schlussbetrachtung lenkt das Augenmerk auf den diabolischen Doppelcharakter der Krise, die wir durchleben. Auf der einen Seite haben wir es mit einer tiefgehenden Finanzkrise, auf der anderen Seite mit der Bedrohung durch die galoppierende Erderwärmung zu tun. Wir können also nicht zur Tagesordnung übergehen. Business as usual kommt nicht mehr in Frage. Wir brauchen einen radikalen Wandel – und müssen darum auch Sinn und Zweck unseres wirtschaftlichen Handelns überdenken und uns fragen, welches Leben wir führen wollen. Ein Manifest kann ich nicht bieten, aber den einen oder anderen Hinweis darauf, welche neuen Wege wir im Angesicht dieser doppelten Herausforderung einschlagen können, werde ich doch zu geben versuchen.
Viele sind wütend. Sie sind wütend über die Krise und darüber, dass man sie zur Kasse bittet für etwas, das sie gar nicht verschuldet haben. Auf viele Bürger der alten Industrienationen warten lange Jahre der Arbeitslosigkeit, höhere Schulden als frühere Generationen sie je gemacht haben, die Aussicht, sich die eigene Wohnung nicht mehr leisten zu können, ausbleibende staatliche Hilfe, steigende Kosten für die Grundversorgung, ein geschrumpfter und unterfinanzierter öffentlicher Sektor. All jene, die in Armut aufwachsen werden, sehen sich durch die Geburtslotterie einer Gesellschaft, in der massive Ungleichheit herrscht, nicht allein ihrer Lebenschancen beraubt, sie werden dafür auch noch verachtet und angeprangert. Aber wir müssen erkennen, wie erheblich der Anteil ist, den der Aufstieg der Reichen daran hat. Wie Tawney, ein ebenso radikaler wie unterschätzter Denker des frühen 20. Jahrhunderts, gesagt hat: «Was nachdenkliche Reiche das Problem der Armut nennen, das nennen nachdenkliche Arme mit gleichem Recht das Problem des Reichtums.»[35]
Alle Tantiemen aus dem Verkauf dieses Buchs gehen an ausgewählte gemeinnützige Einrichtungen und Organisationen, die sich der Bemühung um Gleichheit und wirtschaftliche Gerechtigkeit verschrieben haben.
Das war die Einführung. Das Buch (Andrew Sayer: "Warum wir uns die Reichen nicht leisten können") kann man im Internet bestellen.
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