Zähe ukrainische Offensive und Kampf gegen russische Logistik
Nico LangeDie Ukraine kämpft sich im Süden zäh voran. Russland errichtet neue Verteidigungslinien, nutzt seine Luftüberlegenheit und geht selbst an einigen Frontabschnitten wieder zum Angriff über. Wie ist die Lage und was wird gebraucht?
Die Ukraine baut den Hauptangriff der Gegenoffensive sowohl südöstlich als auch östlich von Robotyne in Richtung Werbowe weiter aus. Seit nunmehr sechs Wochen verbreitert und vertieft die Ukraine beständig diese Angriffsachse.
Die Ukraine erreicht bei Robotyne lokal Parität und teilweise Übergewicht bei der Artillerie. Nach intensivem Artilleriefeuer rückt die ukrainische Infanterie dort jeweils zu den nächsten Stellungen vor - so gelingen langsame, aber beständige Geländegewinne.
Während die Ukraine sich mühselig durch die russischen Verteidigungsstellungen kämpft, errichtet Russland weiter südlich und auf dominanten Höhen vor Tokmak und Melitopol neue Linien.
Auf der zweiten Angriffsachse der Gegenoffensive, östlich von Uroschaijne, bleiben ukrainische Versuche von Vorstößen derzeit ohne Erfolg. Geringe Fortschritte erreicht die Ukraine aber weiter östlich in Richtung Nowomajorske.
Südlich von Awdijiwka gelang der Ukraine durch Ausnutzen lokaler russischer Schwächen ein Vorstoß in die Ortschaft Opytne nördlich des ehemaligen Flughafens von Donezk.
Auf den Anhöhen südlich von Bachmut greift die Ukraine von Klischtschijiwka in die Richtungen Nordosten und Südosten gleichzeitig an.
Russland nimmt im Osten derzeit Angriffe westlich von Marjinka wieder auf. Im Norden setzt Russland weiter auf Luftschläge und Angriffsversuche in Richtung Kupjansk, kann hier bisher aber kein Gelände gewinnen.
Entlang der gesamten Frontlinie führt Russland Luftangriffe mit Flugzeugen und Hubschraubern sowie Drohnenangriffe, vor allem mit Lancet-Kamikaze-Drohnen durch.
Aufgrund der russischen Luftüberlegenheit in Frontnähe müssen ukrainische Kampfflugzeuge, etwa um Marschflugkörper wie Storm Shadow oder SCALP-EG abzufeuern, sehr weiten Abstand halten. Entsprechend verkürzen sich die realen Reichweiten der Präzisionswaffen.
Russland setzt leistungsstarke Systeme zur elektronischen Kampfführung ein. Das erzeugt erhebliche Probleme für ukrainische Drohnen, aber auch für GPS-gesteuerte Präzisionswaffen, die Russland in einer signifikanten Zahl durch Jamming vom Ziel ablenken kann.
Die Ukraine behält insgesamt die Initiative und führt die Gegenoffensive weiter. Ein Erreichen von Melitopol oder Mariupol und damit der Küste des Asowschen Meeres scheint bis zum Jahresende jedoch nicht mehr realistisch.
In Bachmut hat die Ukraine in den nächsten Wochen und Monaten allerdings höhere Chancen auf einen Erfolg, der erhebliche psychologische Auswirkungen mit Blick auf Russland haben könnte.
In der Ukraine teilt man die Auffassung mancher ausländischen Beobachter, dass es ein "Zeitfenster" der Gegenoffensive bis zum Herbst oder Winter geben würde, ausdrücklich nicht. Die Südukraine ist nicht Sibirien. Wie im Vorjahr werden die Kampfhandlungen den ganzen Herbst und Winter hindurch weitergehen.
Die Ukraine braucht weiter viel Munition für Mörser und Artillerie, Raketenartillerie und Präzisionswaffen mit höheren Reichweiten wie ATACMS, GLSDB und Taurus. Ein Erfolg im Süden hängt von der erfolgreichen Bekämpfung der russischen Logistik auf der Schiene und der Küstenstraße und gleichzeitigem Abschneiden der Zugänge von und zur Krim ab.
Die Ukraine braucht mehr und bessere Mittel gegen die russische elektronische Kampfführung. Dazu gehören präzisionsgelenkte Munition, moderne eigene elektronische Kampfführung und ständig weiterentwickelte Abwehrsysteme gegen Jamming. Die Partner der Ukraine müssen auf diesem Gebiet selbst besser werden, um gegen die leistungsstarken russischen Systeme zu wirken.
Die Ukraine braucht weiterhin mehr Luftverteidigung und Drohnenabwehr. Die Ukraine muss ihre Luftverteidigung auf eine drohende Herbst- und Winterwelle russischer kombinierter Angriffe aus Marschflugkörpern, ballistischen Raketen und Drohnen vorbereiten.
Russland spart offenbar produzierte Marschflugkörper für neue große Angriffswellen gegen Infrastrukturen auf, positionierte Iskander-Systeme und ging bei einigen Drohnentypen zur Massenproduktion über.
Die Ukraine braucht weiter möglichst viele Drohnen und mehr Liefersicherheit bei Drohnenkomponenten. Ukrainischer Drohnenbau und Drohnenlieferungen an die Ukraine sollten mithilfe der Partner insbesondere von chinesischen Komponenten unabhängiger gemacht werden.
Viele Beschädigungen an Schützenpanzern und Kampfpanzern, auch durch die berüchtigten russischen Lancet-Drohnen, sind reparabel. Es ist dringend notwendig, durch joint ventures und gemeinsame Werkstätten in der Ukraine Ersatzteile, Reparatur und Instandsetzung dichter an die Frontlinie zu bringen.
Niemand sollte erwarten, dass eine langsame oder hinter ihren Zielen zurückbleibende ukrainische Gegenoffensive zu Stillstand, Waffenstillstand und Frieden führen würden. Russland greift wieder an, sobald und wo es kann, und hält weiterhin an sehr weitgehenden politischen und militärischen Zielen fest.
Die Ukraine ist also gezwungen, weiterzukämpfen, auch wenn die Gegenoffensive sehr schwierig ist. Die Ukraine benötigt dafür langfristige, systematische und industriell basierte Unterstützung durch die Partner.
Gleichzeitig braucht die Ukraine jetzt die rasche Konkretisierung langfristiger Sicherheitszusagen bis hin zur Frage einer künftigen Abschreckung Russlands, die einen Rahmen für eine mögliche Beendigung des Krieges und einen stabilen Frieden setzen.
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In Gedenken an Yevhen und die anderen Helden.
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