Weizenvarianten boomen in Brasilien: Was kann der Weizen aus den Tropen?

Weizenvarianten boomen in Brasilien: Was kann der Weizen aus den Tropen?

www.spiegel.de - Nicola Abé, Der Spiegel

In Brasilien boomt der Anbau von neuen Weizenvarianten, die auch bei Hitze und Dürre wachsen. Das Land will damit zum Großproduzenten werden – und eine Lösung für die weltweite Ernährungskrise aufzeigen.

Paulo Bonato hält tropische Weizenpflanzen in seinen Händen in Cristalina, Brasilien Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL

Paulo Bonatos sommersprossige Hand streicht zärtlich über die Spitzen seiner Ähren. Die Sonne brennt vom Himmel. Die Erde in der zentralbrasilianischen Savanne ist rot wie ein rostiger Schiffsrumpf. Und doch erstreckt sich ein Weizenfeld über die Ebene, tiefgrün und saftig, als stünde es mitten in Bayern. Der Wind fährt durch die trockenen Blätter der Maispflanzen gegenüber, erzeugt ein gleichmäßiges Rauschen, als würde ein tropischer Regenguss niedergehen. Doch geregnet hat es hier »zum letzten Mal am 16. Mai dieses Jahres«, erklärt Bonato, also vor knapp drei Monaten.

Immer wieder nimmt Bonato eine Pflanze zwischen die Finger, untersucht die noch unreifen Körner, prüft, ob eine Krankheit oder ein Pilz seine Schützlinge befallen hat. »Ich muss sie jeden Tag sehen«, sagt er, »ich kann fühlen, wie es ihnen geht.« Bonato, 62, Bauer und Farmbesitzer, hält den Weltrekord im Anbau von tropischem Weizen – niemand erwirtschaftet so gute Erträge wie er.

Paulo Bonato untersucht das Wachstum seiner Weizenkörner Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL

Bonato ist Protagonist einer Langzeitrevolution, die sich rund um die brasilianische Hauptstadt Brasilia abspielt – und gerade mächtig Auftrieb erhält. Die Idee: Brasilien, ein Land, dessen Klimazonen und Bodenbedingungen den Anbau von Weizen eigentlich nur im gemäßigten Süden begünstigen, soll zum globalen Großproduzenten werden. Schon bald werde das Land sich selbst versorgen können, kündigte Präsident Jair Bolsonaro kürzlich an, »in zehn Jahren werden wir so viel exportieren, wie wir hier verbrauchen«. Die »Autosuffizienz« wird seither in den Medien hoch und runter diskutiert.

Dürrebedingte Ernteausfälle in traditionellen Weizenanbaugebieten wie Kanada und Engpässe in Folge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine haben Weizen ins Zentrum der globalen Aufmerksamkeit gerückt. Die Weltmarktpreise stiegen stark an, was den kostenintensiven Anbau des Korns in subtropischen Regionen nun attraktiver macht.

»Weizen ist einer der wichtigsten Kaloriengeber für die Menschheit«, sagt Celso Luiz Moretti, Chef der staatlichen brasilianischen Behörde für landwirtschaftliche Forschung Embrapa. Er hofft, mit seinen Innovationen langfristig einen Beitrag für die Welternährung zu leisten. »Wenn es Weltregionen gibt, in denen wir die Produktion von Lebensmitteln noch ausweiten können, dann sind das die tropischen und subtropischen Gebiete.«

Den von Embrapa entwickelten Weizen könnte man gut auch in Subsahara-Afrika anbauen. Ist er also das Korn der Zukunft? Ist der Anbau in den Subtropen die Lösung, um bestehende Hungerkrisen zu überwinden? Oder sind die Risiken zu hoch, wie Umweltschützer befürchten?

Maisernte in Cristalina in der brasilianischen Savanne Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL

Geerntete Sorghumhirse lagert in einem Gebäude auf der Farm von Paulo Bonato Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL

Brasilien, das in den Siebzigerjahren noch Rindfleisch aus Europa und Bohnen aus Mexiko importierte, ist heute der viertgrößte Lebensmittelexporteur der Welt. Embrapa hat diese Revolution überhaupt erst möglich gemacht: Bereits in den frühen Siebzigerjahren begannen Forscher damit, Tiere und Pflanzen aus allen möglichen Weltregionen an das subtropische Klima anzupassen, also resistenter gegenüber Hitze und Trockenheit zu machen. Im Laufe der Jahrzehnte gelang das mit so ziemlich allem, von der afghanischen Bergziege über die niederländische Milchkuh bis hin zu Mais, Soja und eben: Weizen.

Beim Weizenanbau allerdings hinkt das Land bisher hinterher. Noch immer müssen jährlich Millionen Tonnen importiert werden – doch auch das soll sich jetzt ändern. Und bei dem Plan spielt der tropische Weizen eine wichtige Rolle, auch wenn er bislang nur fünf Prozent der brasilianischen Gesamtproduktion ausmacht, Tendenz steigend.

Paulo Bonato, der Weltrekordbauer, nutzt auf seiner 1200 Hektar großen Farm die von Embrapa entwickelten Weizensorte BRS 264. Doch das allein reicht nicht aus, um hier erfolgreich zu sein: Die sauren, unfruchtbaren Böden müssen mit einer Nähstoffmischung behandelt werden. Der Weizen benötigt außerdem Bewässerung; Bonato hat dafür eine Art Stausee angelegt, in dem während der Regenzeit Wasser gesammelt wird.

Der saure Boden in der brasilianischen Savanne ist nährstoffarm Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL

»Die Pflanze wächst hier sehr schnell, von der Saat bis zur Ernte vergehen nur rund 120 Tage«, erklärt Bonato, »im Gegensatz zu rund 300 Tagen im traditionellen Winterweizenanbau.« Das bedeutet, dass das Korn etwa zwischen Mais und Soja gepflanzt werden kann – was wiederum dem Boden guttut. »Wir entfernen die Pflanzenreste nicht, das organische Material verbleibt im Boden.« Das erhöhe dessen Resistenz gegenüber Krankheiten.

Bonatos Geheimrezept ist eine Mischung aus Technik und Liebe: Wie es um seine Pflänzchen bestellt ist, kann er quasi in Echtzeit auf seinem Handy verfolgen: Sonden in jedem seiner Felder messen die Bodenfeuchtigkeit in verschiedenen Tiefen. Eine App zeigt Temperatur und Niederschlag an, errechnet stündliche Updates. Aber Bonato hat auch eine persönliche Beziehung zu seinen Ähren: »Es ist nicht so, dass ich mit den Pflanzen rede«, sagt er mit einem verlegenen Grinsen, »aber ich spüre sie eben. Wie eine Mutter, die sofort sieht, wenn ihr Kind traurig ist.«

Paulo Bonato und sein Sohn stehen auf einem Weizenfeld Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL

Bereits Mitte der Achtzigerjahre forschte Embrapa an Weizen für den Anbau in tropischen Gebieten – zu Beginn mit wenig vielversprechenden Ergebnissen. Das Getreide wuchs schlecht, der Glutengehalt war zu niedrig. Der Agrartechniker Julio Cesar Albrecht, 60, selektiert seit 1985 für die Behörde Weizenpflanzen, befruchtet per Hand solche, die vielversprechende Eigenschaften wie Dürre- oder Krankheitsresistenz aufweisen, erschafft neue Kreuzungen.

Mehr als einmal wollte er aufgeben. Seine Forschung wurde in Zweifel gezogen, die Finanzierung gekürzt. Dann aber dachte Albrecht an seine Kindheit, an die wunderschönen Weizenfelder vor dem Haus seiner Eltern im Süden Brasiliens, in denen er als Junge verstecken spielte, an das dunkle Vollkornbrot, das er gemeinsam mit seiner Mutter buk und mit Butter und Honig verspeiste, nach Art seiner deutschen Vorfahren.

Trotz aller Rückschläge hat Albrecht seinen Glauben an den tropischen Weizen niemals verloren. Am ersten Dienstag im August sitzt er in einem schlichten Konferenzraum der lokalen Embrapa-Niederlassung in Planaltina und kann seine Freude kaum verbergen.

Julio Cesar Albrecht war an der Entwicklung des tropischen Weizens beteiligt Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL

Albrecht war maßgeblich an der Variante BRS 264 beteiligt, mit der schließlich der Durchbruch gelang. Seither weitet sich die tropische Weizenproduktion in Brasilien rasant aus. Inzwischen, sagt Albrecht, könne das Getreide aus der Savanne »mit den besten der Welt aus Argentinien und Kanada mithalten«. Es habe einen hohen Proteinanteil von 15 Prozent und sei »hervorragend für die Herstellung von Brot geeignet«. Albrecht und seine Kollegen haben außerdem eine Variante entwickelt, die zwar weniger ertragreich ist, sich aber sogar ohne Bewässerung in subtropischen Regionen anbauen lässt.

»Das ist das beste Jahr für den brasilianischen Weizen seit einem halben Jahrhundert«, sagt Albrecht. Die Nachfrage nach Weizensaat war im März und Mai so hoch, dass sie ausging. Für dieses Jahr wird eine Rekordernte von mindestens neun Millionen Tonnen Weizen erwartet – rund drei Viertel des Eigenbedarfes. »Und wir haben noch so viel mehr Potenzial.«

Bewässerungssystem auf der Farm von Paulo Bonato in Zentralbrasilien Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL

Weniger glücklich über die Blüte der tropischen Landwirtschaft ist die Biologin Morgana Bruno, die an der katholischen Universität von Brasilia lehrt. »Natürlich ist die Produktion von Nahrungsmitteln wichtig«, sagt sie, »aber die Savanne ist ein fragiles Ökosystem.« Im Gegensatz zum Regenwald sei sie wenig geschützt, aber eben dennoch eine Primärvegetation.

Bruno lehrt an der katholischen Universität von Brasilia. Sie empfängt in den Laborräumen. Das Fell eines Ameisenbären liegt auf dem Tisch, er wird gerade zu Lehrzwecken präpariert, wie auch andere Tiere der Savanne. Bruno zeigt eine ausgestopfte Eule, ein Wasserschwein und eine Python, die in einer Plastikbox in Alkohol liegt.

Morgana Bruno befürchtet, tropischer Weizen könne das Ökosystem der Savanne zerstören Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL

»Die brasilianische Savanne beheimatet diverse Pflanzen und Tierarten«, sagt Bruno. Außerdem sei sie für den Wasserhaushalt des gesamten Landes äußerst wichtig. Im subtropischen Herzen Brasiliens, erklärt Bruno, entspringen zahlreiche Flüsse, die in alle Richtungen abfließen. »Wenn wir hier zu viel Wasser verbrauchen für den Anbau, dann wird der Rest des Landes geradezu austrocknen.«

Verschärfend komme hinzu, dass der Savannengürtel bereits jetzt unter einem Rückgang der Niederschlagsmenge aufgrund der Entwaldung des Amazonas leidet. In den nächsten Jahren, schätzt die Forschergemeinschaft Mapbiomas, soll es in der Savanne 20 Prozent weniger Regen geben – beim jetzigen Stand der Entwaldung, die allerdings rasant fortschreitet. Die Temperatur soll demnach um vier bis fünf Grad ansteigen.

Embrapa hat errechnet, dass zukünftig auf vier Millionen Hektar brasilianischer Savanne tropischer Weizen angebaut werden könnte. Geplant ist, dass dafür nur bereits landwirtschaftlich erschlossene Flächen genutzt werden.

Aber dabei werde es nicht blieben, befürchtet die Forscherin Bruno. Die Entwicklung in Brasilien spreche dagegen, dass man der Landwirtschaft tatsächlich Einhalt gebiete: »Letztlich hängt alles von der Nachfrage ab.« Bruno selbst lebt vegan, sie könne gar nicht anders – schließlich verstehe sie als Ökologin die Zusammenhänge. »Wir sollten nicht immer neue Pflanzen entwickeln, die dann an immer neuen Orten angebaut werden können«, sagt sie, »sondern unseren Konsum verändern.«

Von der brasilianischen Behörde für landwirtschaftliche Forschung entwickelter Samen Foto: Rogério Vieira / DER SPIEGEL

»Es geht darum, ein Gleichgewicht zu finden«, sagt Embrapa-Chef Moretti. Der brasilianische Savannengürtel ist 204 Millionen Hektar groß – allerdings inklusive bereits degenerierter Flächen. Mit Weizen bewirtschaftet werden sollen vier Millionen Hektar. Moretti hält das für verkraftbar. Er spricht offen über den Klimawandel und positioniert sich explizit gegen die Abholzung des Amazonas, die er für »dumm« hält. Doch er glaubt an technische Lösungen und daran, dass eine Anpassung von Arten und Methoden dabei helfen kann, Landwirtschaft nicht nur klimaresistenter, sondern auch klimafreundlicher zu machen.

Doch auch wenn dieses Vorhaben gelingen sollte, stellt sich die Frage, wer von der tropischen Landwirtschaft profitiert. Brasilien ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, dass eine Steigerung der Agrarproduktion keinesfalls ein Ende des Hungers bedeutet. Das Land lebt mit dem Paradox, einerseits einer der größten Exporteure von Lebensmitteln zu sein – während zugleich 33 Millionen Menschen von Lebensmittelunsicherheit betroffen sind.

»Meine größte Hoffnung ist, dass der heimische Weizen die Preise sinken lässt«, sagt die Ökologin Bruno, »und sich jeder das Brot wieder leisten kann.«

Mitarbeit: Fernanda Bastos

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