Warum "Aber das hätte er doch als Geschichtslehrer wissen müssen!" Unfug ist

Warum "Aber das hätte er doch als Geschichtslehrer wissen müssen!" Unfug ist

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Mythen zum Geschichtsstudium erzeugen falsche Vorstellungen (Symbolbild:Pixabay)

Was muss ein Historiker oder Geschichtslehrer wissen? Die Frage ist gerade angesichts des derzeitigen Prozesses gegen Björn Höcke hochaktuell. Dabei geistern seltsame Vorstellungen über das Studium der Geschichte in den Köpfen der Menschen herum, die fest überzeugt sind, ein solches Studium bestünde nur aus dem Büffeln von Zahlen und Zitaten. “Warum studiert man das? Das steht doch alles in Büchern!”, war die naivste Frage, die ich zu hören bekam. Das tut fast körperlich weh. Auch wenn ich mangels einer Universitätsstelle immer in anderen Berufen tätig war, denke ich gern an das Studium zurück. Mit der Vorstellung, es stünde doch alles in Büchern, fällt man im ersten Semester freilich erst einmal kräftig auf die Nase: Ein Mitstudent etwa verkündete stolz im Referat sein Wissen über das Geburtsjahr Julius Caesars, als der Dozent schon einhakte: “Woher wissen Sie das? Haben Sie damals bei der Geburt geholfen?” Was er damit sagen wollte: Es geht eben nicht darum, einfach Dinge auswendig zu lernen, sondern sich selbst das Wissen anhand zeitgenössischer Quellen zu erschließen.

Die Zeit der Universalgelehrten in der Historikerzunft, wie es zuletzt Theodor Mommsen einer war, ist dabei längst vorbei; dazu gibt es mittlerweile zu viele Unterbereiche des Studiums, etwa Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Zu meiner Zeit kam gerade das Fachgebiet “Klimageschichte” auf, das ich manchem Öko-Aktivisten sehr ans Herz legen möchte: Dabei geht es nämlich um die Klimaveränderungen in den letzten zwei Jahrtausenden und ihre Auswirkung auf das Leben der Menschen etwa in der Landwirtschaft. Man kann das alles unmöglich in die Regelstudienzeit packen, also legt man sich spätestens im Hauptstudium ein Fachgebiet zu. Dennoch geht es uns manchmal wie Ärzten, denen die Besucher einer Party unaufgefordert ihr marodes Knie mit Bitte um Abhilfe zeigen, auch wenn der Mediziner eigentlich auf Urologie spezialisiert ist. Man hat anscheinend “Google” auf der Stirn stehen, prompte Antwort wird erwartet. Wenn ich also schon den Satz höre: “Das hätte er als Historiker wissen müssen”, platzt mir schon im Eigeninteresse der Kragen. Nein, wir sind keine Massenspeicher der Weltgeschichte!

Blitz der Erkenntnis

Auf einer Familienfeier, für die ein Festsaal in einem Restaurant angemietet worden war, schleppte mich einer meiner entfernten Onkel zu einem riesigen Ölschinken an der Wand und forderte Aufklärung über das Sujet des Werkes. “Du hast doch Geschichte studiert, du weißt das bestimmt!” Man muss dazu wissen, dass unsere Familie zur “armen Verwandtschaft” gehörte, daher wäre ich nach Ansicht des Clans besser dazu angehalten worden, etwas “Anständiges” zu lernen. Also warf ich, wie gefordert, einen Blick auf das Bild, innerlich in blanker Panik, den verarmten Lübke-Zweig der Sippe tödlich zu blamieren, als mich plötzlich der Blitz der Erkenntnis traf: Es handelte sich um eine Darstellung der Durchsetzung der Bartsteuer im Russland Peters des Großen; man sah widerborstige Bauern, die sich der Verwestlichung ihres Gesichtes entgegengestellt hatten. Auf großen Hackklötzen wurden ihnen nun öffentlich die Bärte abgehackt. Zum Glück nicht der Kopf. Das schmückte ich dann noch ein bisschen mit ein paar netten Geschichten bunt aus. Mein Onkel nickte zufrieden: Auch die arme Verwandtschaft war also durchaus in der Lage, sich etwas Wissen anzueignen!

Die Geschichte von den zwangsgeschorenen russischen Bauern kannte ich allerdings gar nicht aus dem Studium, sondern noch aus der Schule, aus einer Fernsehserie und von den Erzählungen meiner geschichtsinteressierten Oma – nicht alles an der Uni zu lernen, bedeutet schließlich nicht, sich außerhalb des Hörsaals nicht für Geschichtliches zu interessieren. Die meisten Menschen meinen es noch nicht einmal böse, wenn sie einen “ausquetschen”; “Was Sie schon immer über Ritter wissen wollten, aber nie zu fragen wagten”, kann da schonmal ebenso das Motiv sein. Da habe ich dann Glück gehabt: Mittelalter, das ist mein Ding! Über Missverständnisse in Bezug auf Rüstungen kann ich einiges erzählen. Viele Ritter besaßen nämlich keine vollständige Ausstattung; die war viel zu schwer und zu teuer. Es war eher sowas wie der Lamborghini unter den Rittersachen, der auch mal im Pfandhaus landete. Dies war zum Beispiel Thema eines jüdischen Rechtsgutachtens, mit dem ich mich einst für meine Magisterarbeit beschäftigte.

Nicht zu emotional ans Thema herangehen

Übrigens ist es möglich – wenn man denn möchte –, dem Bereich Nationalsozialismus im Studium komplett aus dem Weg gehen. Seine Leistungsnachweise im Bereich “Neuzeit” kann man ebenso gut über den Dreißigjährigen Krieg, den deutschen Vormärz oder – wie ich – über das Wirken der Jesuiten in Paraguay erwerben. Das soll nun keine Aufforderung sein, sich nicht mit dem Nationalsozialismus zu beschäftigen; im Gegenteil. Doch es empfiehlt sich, nicht allzu emotional an die Sache heranzugehen, was – zugegebenermaßen – aufgrund der gut dokumentierten Grausamkeiten dieser Zeit schwerfällt. Gerade dann, wenn die eigene Familie involviert war. Eine Bekannte mokierte sich darüber, dass ich ein Seminar zur Wirtschaftsgeschichte des Dritten Reiches besuchte. Das war ihr nicht moralisch genug. Es lieferte dafür aber einige hervorragende Argumente, um Hitlers angebliches Wirtschaftswunder zu entzaubern, nebst einiger Anekdoten zum Umgang britischer Kampfpiloten mit dem Kreiselkompass der V1. “Richtige” Nazis – nicht die heute herbeiimaginierten – widerlegt man nämlich nicht durch Moral, sondern durch die Kenntnis der von ihnen aufgebauten Strukturen. Diese sind denen linker Diktaturen übrigens oft zum Verwechseln ähnlich – weshalb sich Linke auch so gern auf die Moral verlegen. Da wird dann gern bei Historikern etwas Nichtwissen verlangt.

Alle Katzen sind blau.
Paul ist eine Katze.
Paul ist blau.

Das ist formallogisch vollkommen richtig, entspricht aber eben nicht der Realität, weil – wie wir wissen – es auch Katzen in anderen Farben gibt. Die Prämisse ist für das reale Leben falsch. Auch der Satz “Höcke ist Geschichtslehrer, er hätte es wissen müssen”, baut eine Kette auf, die für viele Bürger erst einmal überzeugend klingt. Obwohl auch hier die Prämisse vollkommen an der Realität eines Geschichtsstudiums vorbeiläuft. Auch wenn man sie, wie die Medien, dutzendfach pro Tag wiederholt, wird die Aussage nicht richtiger. Denn auch das kann man übrigens im Geschichtsstudium lernen: Sich nicht von Propaganda überrumpeln zu lassen. Die gab es in der Politik seit Anbeginn der Geschichtsschreibung; aber die Menschen sind diesbezüglich noch nicht schlauer geworden.

Modernes “Geschichtsstudium” (Symbolbild:Netzfund)

Source ansage.org

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