WAS DIE AFD BEHAUPTET - UND WIE WIR DARÜBER DISKUTIEREN KÖNNEN - TEIL 1
Deutschland Solidarisch GestaltenI Einleitung
1. Editorial
Die Broschüre setzt sich mit Äußerungen und Behauptungen der AfD auseinander und mit der Frage, was die Zielsetzungen der AfD für Deutschland bedeuten. Die Broschüre ist ein Angebot an alle, die sich kritisch mit der AfD auseinandersetzen und darüber mit anderen diskutieren wollen. Einerseits fühlen wir Behauptungen der AfD auf den Zahn, um zu zeigen, dass sie einer genaueren Prüfung nicht standhalten können. Andererseits arbeiten wir heraus, wofür die AfD tatsächlich steht – worauf sie abzielt, was ihre Forderungen für unser Land bedeuten würden. Im Kern möchten wir (auch historisch) herleiten, dass die AfD einen autokratischen Staat mit einer juristisch verankerten Diskriminierungsagenda aufbauen will, der als rechtsextrem bzw. faschistisch zu bewerten ist. Die AfD vertritt eine Agenda, in der Sexismus und Rassismus das Herzstück bilden und die eine massive Gefahr für Deutschland darstellt. Dabei behalten wir im Blick, dass die AfD Teil des gesamteuropäischen Aufstiegs des Rechtsextremismus ist und dass dieser wiederum nur die Spitze des Eisberges eines dramatischen Rechtsrucks der so genannten “Mitte der Gesellschaft” ist.
Rassismus und Sexismus sowie die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen haben eine jahrhundertelange Geschichte, die zu keinem Zeitpunkt überwunden wurde. Seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts haben Kämpfe gegen Diskriminierung erwirkt, dass Diskriminierung beim Namen genannt wird und Antidiskriminierungsmaßnahmen und -gesetzgebungen etabliert wurden. Die AfD macht keinen Hehl daraus, diese abschaffen zu wollen. Es geht der AfD also gar nicht darum, den Status zu erhalten. Der angebliche Konservatismus rechter politischer Kräfte rüttelt an diesen noch jungen Errungenschaften. Insgesamt gibt es einen Backlash, der weiße heteronormative Normsetzungen und Ausgrenzungsstrategien wieder laut und sichtbarer macht.
Die Gedanken und Argumente, die in diese Broschüre einflossen, fußen auf Erfahrungen und Expertisen von wissenschaftlich, aktivistisch und künstlerisch arbeitenden Personen verschiedener Altersgruppen, Berufe, Geschlechter. Schwarze Menschen, People of Color und weiße Personen haben an dem Projekt mitgewirkt. Wir arbeiten in Gedenkstätten, NGOs oder Bildungseinrichtungen.
Unser Name, “Deutschland solidarisch gestalten”, fasst unsere Zielsetzung zusammen. Wir wollen Deutschland solidarisch gestalten und das heißt auch, Diskriminierung, dem Rechtsruck hierzulande und konkret der AfD Sand im Getriebe zu sein. Dafür werden Forschungen und Erfahrungen mobilisiert, in gegebener Überlagerung. Wir nehmen die Bedrohung ernst, die von der AfD für BIJPoC, also Schwarze Menschen, Indigene Menschen, Juden_Jüdinnen und People of Color, sowie queere Personen oder Menschen mit chronischen Erkrankungen oder Einschränkungen ausgeht.
Dass die Würde des Menschen unantastbar ist, ist nichts, wofür die AfD steht. Für sie sind einige Menschenleben mehr wert als andere. Diese Broschüre möchte daher diskutieren, was es bedarf, um dieses bundesdeutsche Credo gesamtgesellschaftlich zu leben.
Faktenbasiert argumentieren zu können, ist eine wichtige Kompetenz. Zugleich bedarf es der Bereitschaft, überhaupt miteinander ins Gespräch kommen und einander zuhören zu wollen. Neben Wissen wird Empathie dabei eine Schlüsselposition einnehmen müssen. Wenn es uns gelingt, die Auswirkungen von Diskriminierung emotional und über fundierte Sachargumente zu erfassen, dann ist das eine wichtige Grundlage dafür, sich produktiv Diskriminierung und der AfD in den Weg stellen zu können. Daher wünschen wir uns eine Debattenkultur, die achtsam, wertschätzend und empathisch gestaltet wird.
2. Miteinander Reden
Jeder Mensch hat Interessen. Diese können von anderen geteilt, toleriert oder abgelehnt werden. Eine Gesellschaft muss dieses Spannungsfeld so gestalten, dass Konflikte angeschaut und gelöst werden. Aktuell fühlt es sich für viele so an, dass diese Konflikte so groß sind, dass sie im Streit ersticken und es kaum noch Lösungen gibt. Für einige ist es etwa wichtig, dass die Errungenschaften der Antidiskriminierungsarbeit und -gesetzgebung ernst genommen werden, weil sie sich davon eine Verbesserung der Lebenssituation von sich selbst und anderen erhoffen. Andere regt genau dies auf und beschimpfen dies als Wokeness. Viele fühlen sich davon sogar in ihrer Lebenssituation beeinträchtigt. Auf der einen Seite wird geschlechtergerechte Sprache vielen zu einem wertgeschätzten sicheren Ort, und auf der anderen Seite empfinden andere genau dies als bedrohlich – was sogar schon zu Verboten führte. Am Ende des Tages aber geht eine Person, die in der Schule mit dem falschen Pronomen angesprochen wird ebenso unzufrieden nach Hause, wie ein Lehrer, der den Genderstern zwar verbietet, dafür aber das Vertrauen oder auch nur die Zugewandtheit seiner Schüler*innen einbüßt. Denn letztendlich kann er das Grummeln im Klassenraum, das seiner konservativen Haltung gilt, nicht ausblenden, und diese Erfahrung bewirkt, dass er sich für seine Durchführung des Unterrichts nicht ausreichend wertgeschätzt fühlt.
Vor diesem Hintergrund finden wir es sehr wichtig, sich folgenden Fragen aufrichtig zu stellen: In welcher Welt möchte ich leben? Was ist mir wichtig und warum – und was ärgert mich? Wie möchte ich über das sprechen, das mich ärgert? Was brauche ich, damit ich solche Gespräche führen kann? Was kann ich geben, um insgesamt zu einem guten Debattenklima und zur wechselseitigen Wertschätzung beizutragen?
Es sind Fragen wie diese, es sind Fragen dazu, wie wir in Deutschland leben wollen, die im Zentrum dieser Broschüre stehen. Dabei hat sie vor allem ein zentrales Ziel: Im Zentrum dieser Broschüre stehen Argumente, die Behauptungen der AfD widersprechen. Warum?
Die AfD dockt sich gerne an Themen an, über welche die Gesellschaft streitet. Mehr noch: Sie schürt diese – und zwar, um Konflikte und Probleme als unlösbar darzustellen und um dann zu behaupten, dass allein die AfD diese Probleme lösen könne. Doch die AfD muss sich die Frage gefallen lassen, ob “Migration” wirklich die Mutter aller Probleme ist oder auch, ob sie wirklich die Interessen ökonomisch diskriminierter Menschen oder der Ostdeutschen vertritt.
Für die Auseinandersetzung mit diesen Fragen bieten wir Argumente an. Diese sollen unproduktiven Streit verhindern und die Debattenkultur stärken. Der Mensch ist gut und er verdient Gutes. Dennoch verletzen Menschen einander – und meist ist das nicht mal so gewollt. Viele Verletzungen resultieren daraus, dass eigene Interessen kompromisslos verfolgt werden – also ohne die Bedürfnisse anderer, etwa nach Wertschätzung, Repräsentation oder Gesehen-Werden, angemessen zu berücksichtigen. Oder weil komplexe Zusammenhänge zu vereinfacht betrachtet werden. Deswegen setzen wir auf eine Debatte, die wertschätzend, ergebnisoffen und argumentbasiert geführt wird – und in der die Bereitschaft besteht, einander zu vertrauen und einander zuzuhören.
Mit verschiedenen Menschen ins Gespräch zu kommen, sich über Ideen, Werte und Perspektiven auszutauschen – davon lebt eine Demokratie. In solchen Situationen ist es allerdings bedeutsam, wie wir miteinander reden und umgehen. Jedes Gespräch bietet die Möglichkeit, das Gegenüber besser kennenzulernen, zu verstehen, was das Herz bewegt und welche Sorgen eine Person umhertreiben. Gespräche sind kein Wettbewerb um Rechthaberei vor einem Publikum, sondern eine Möglichkeit des zwischenmenschlichen Austauschs. Daher ist es wichtig, bei sich zu bleiben, nicht zu verallgemeinern und die Sorgen des Gegenübers zu detektieren und ernst zu nehmen. Konkrete Nachfragen zur individuellen Situation sind ein wichtiges Instrumentarium für kritische Selbstreflektion, d.h. in einem Gespräch sollten sich alle über ihren Lebensalltag austauschen können und falls verallgemeinert wird, sollten wir nicht verurteilen, sondern durch Nachfragen die Pauschalisierung in Frage stellen.
Beispiele:
A: “Hallo, wie geht’s dir heute und was bewegt dein Herz?“
B: “Man kann gar nicht mehr in die Stadt gehen, weil da alles zu viel kostet.“
A: “Tut mir leid zu hören, hast du Geldsorgen?“
B: “Die ganzen Leute, die jetzt gekommen sind, sind einfach zu viel!“
A, Verständnis zeigen für Frust: „Ja, es ist alles sehr teuer geworden. Aber kannst du mir erklären, was das mit den Leuten zu tun hat, die hierhergekommen sind?“
B: “Keiner hat mehr Geld, Deutschland geht den Bach runter.“
A: “Kannst du mir erklären, wie genau Deutschland den Bach runter geht?“
B: “Die Flüchtlinge nehmen uns die Wohnungen weg und ich muss zusehen, wie ich zum Ende des Monats durchkomme.“
A: “Das stimmt, die Mietpreise sind tatsächlich gestiegen, während die Reallöhne gesunken sind. Dabei ist es auch spannend, sich die Frage zu stellen, wie es dazu gekommen ist.“
B: “Wir haben sowieso keinen Einfluss darauf.“
A: “Kann ich verstehen, ich fühle mich auch oft ohnmächtig. Etwa, wenn ich schon wieder Frau xx genannt wurde, obwohl ich gesagt habe, dass ich divers bin.”
Immer, wenn wir etwas sagen, dann ändert sich was. Wer anderen zuhört, wird dadurch beeinflusst. Miteinander sprechen und zuhören, Lernen und Verlernen, Verstehen wollen und erklären wollen – dies alles sind Dinge, die Menschen leisten müssen, um Teil einer sich stetig wandelnden Gesellschaft zu bleiben. Und um die Welt, die uns umgibt, in ihren gegebenen Komplexitäten verstehen und gestalten zu können.
3. Wer hat Angst vor Komplexitäten?
Alle Prozesse und Zusammenhänge, die unsere Welt ausmachen, sind komplex. Ursachen und deren Auswirkungen sowie die vielschichtigen Eigenschaften einer Sache oder einer Situation erzeugen Komplexitäten. Um diese überblicken, schätzen und berechnen können, bedarf es spezifischer Kompetenzen. Im Alltag aber ist es eine Kompetenz, Komplexitäten vereinfacht wahrnehmen und benennen zu können. Ein Beispiel: Wir alle wissen, was ein Apfel ist. Nach der Farbe eines Apfels gefragt, würden die meisten wohl sagen: ein Apfel ist grün, gelb oder rot. Genau genommen aber hat jeder Apfel eine ganz eigene Farbgebung. Ein Apfel, der vorwiegend rot ist, kann auch kleine gelbe oder grüne Stellen haben. Dennoch würden wir uns an der Obsttheke nicht die Mühe machen, auf diese Feinheiten einzugehen. Wir würden nicht den grünen Apfel mit den zwei gelben und den drei roten Stellen bestellen. Wir würden einfach sagen: Ich hätte gern den “grünen” Apfel. Im Alltag und konkret etwa in der Sprache ist es oft extrem hilfreich, komplexe Zusammenhänge zu vereinfachen. Das ermöglicht es uns, Entscheidungen treffen und handeln zu können. Die meisten Menschen können konstruktiv mit diesen verschiedenen Ebenen umgehen. Sie können wissen, dass sie dies oder jenes können oder wissen müssen, und sie wissen, dass sie Felder haben, in denen ihnen solch ein Wissen oder Können fehlt. Dies unterscheiden zu können, ist sehr wichtig; und es führt dazu, akzeptieren zu können, dass das eigene Wohlbefinden davon abhängen kann, Ärzt*innen, Virolog*innen oder Klimaforscher*innen zu vertrauen – auch und obwohl mensch die gegebene Komplexität nicht selbst zu durchdringen vermag. Zum Gesamtbild gehört es dabei, dass Wissen über Komplexitäten nicht in Stein gemeißelt sind, sondern komplexen Aushandlungsprozessen unterworfen bleiben müssen.
Diese wichtigen Kompetenzen im Umgang mit komplexen Zusammenhängen und Prozessen werden von politischen Strategien und Rhetoriken des Populismus und Rechtsextremismus bewusst und gezielt außer Kraft gesetzt.
II Populismus Lügen
- Warum setzen rechtsextreme Parteien wie die AfD auf Hass und Populismus?
Rechtsextremismus verfolgt das Ziel, gegen das bestehende gesellschaftliche und politische System sowie staatliche Einrichtungen vorzugehen. Im Streit um politische Macht (und entsprechende Wahlstimmen) und um Anerkennung (Legitimität) für ihre Machtmittel zu erreichen, müssen rechtsextreme Parteien sich gegen bestehende demokratische Parteien durchsetzen. Dabei setzen sie auf Populismus als politischer Strategie, die die Gesellschaft verunsichert und zerrüttet.
In Populismus steckt der Gedanke, dass etwas so gesagt wird, dass die Mehrheit der Bevölkerung sich gesehen und verstanden fühlt – und dass es so gesagt wird, dass es leicht verständlich anmutet. Genau genommen aber ist dies eine Manipulation, die gegebene Komplexitäten stark vereinfacht, massiv verdreht oder gezielt falsch einstuft. Randständige Probleme werden aufgeblasen. Themen, über die sich die Gesellschaft streitet, werden aufgegriffen, um sie als unlösbar darzustellen – nur um dann zu behaupten, dass rechtsextreme Parteien die einzigen seien, die Lösungen anzubieten hätten. Diese Lösungen sind aber weder bemüht noch geeignet, Probleme zu lösen oder die Lebenssituation der Menschen zu verbessern. Denn Probleme und Streit sind ja das eigentliche Elixier, aus denen rechtsextremer Populismus dadurch Kapital zu schlagen weiß, dass Unzufriedenheit, Empörung und Hass geschürt werden. Dadurch wird Teilung und Unsicherheit erzeugt. Das Bedürfnis nach Sicherheit wird missbraucht, um Angst zu schüren. Das schließt ein, Politiker*innen von Regierungsparteien, Intellektuelle oder Journalist*innen zu delegitimieren. Diese werden als “Establishment” dargestellt, welche den Interessen der „normalen“ Bevölkerung zuwiderhandeln würden.
ILLUSTRATION: 04 Riss
2. Ist es ok, jemandem Angst zu machen, nur um daraus einen egoistischen Nutzen zu ziehen?
Viele Menschen sehnen sich nach Sicherheit. Veränderung geht nicht per se mit Unsicherheit einher. Ganz im Gegenteil haben viele Veränderungen (etwa in der Auto-Technologie oder in der Gesetzgebung) das Leben immer sicherer gemacht. Dennoch erleben viele Menschen Veränderungen als Verunsicherung, die ihnen Angst macht. Denn Veränderung bedeutet immer auch, sich diesen anzupassen und neue Kompetenzen zu erlernen. Durch die digitale Revolution etwa haben sich viele Dinge im Alltag drastisch verändert – und es gibt Menschen, die dies verunsichert. Dass etwa Banken komplett auf Online Banking umstellen und keine Automaten mehr haben, um Kontoauszüge auszudrucken, kann Menschen älterer Jahrgänge belasten oder überfordern. Viele erleben solche oder andere Änderungen nicht nur als Verlust von Sicherheit, sondern auch als beängstigend. Angst vor der Zukunft und ökonomischer Unsicherheit kann Fragilitäten erzeugen, die sich falschen Hoffnungen öffnen.
Aus alledem weiß die AfD politisches Kapital zu schlagen. Sie behauptet, dass Veränderungen in der Gesellschaft die Sicherheit gefährden und behauptet entsprechend, dass die AfD das stoppen werde. Genau daraus leitet sie ab, “nur” konservativ (also den Ist-Zustand konservierend) zu sein. Doch das ist falsch. Denn die AfD will gar nicht alles so lassen, wie es ist. Tatsächlich will sie die Uhr zurückdrehen und ganz viel ändern. Keine Partei will den deutschen Staat und die deutsche Gesellschaft so grundsätzlich umkrempeln wie die AfD. Die AfD will einen autokratischen Staat errichten, politisch Andersdenkende verfolgen, Kreuze in Schulen aufhängen und Antidiskriminierungsgesetze oder -maßnahmen abschaffen. Umgekehrt aber will die AfD Angst vor jeglichem Wandel erzeugen.
Die AfD behauptet aber nicht nur, dass sie den Deutschen Sicherheit zurückgeben könne. Sie leitet davon die Behauptung ab, Ängste lindern zu können. Aber auch das ist nicht wahr. Denn die AfD nährt sich aus der Angst der Menschen und hat viel von jener Angst und Unsicherheit erst selbst hervorgebracht oder aufgebauscht. Genau genommen ist die AfD eine “Angstbewegung” (Biess, 2019, S. 143), weil sie Ängste systematisch schürt und zu diesem Zweck Bedrohungen inszeniert.
Eine wichtige Komponente ist dabei die Angst vor Ungerechtigkeit. Dabei geht es um die Angst, im Vergleich zu anderen schlechter abzuschneiden; wer erhält wie viel Wert – sei es ökonomischer oder anerkennender – für seine jeweilige Leistung in der Gesellschaft? (Eckert, 2020) Zwar kann Gerechtigkeit nicht nur meinen, dass ich möglichst viel (und mehr als andere) vom Kuchen abbekomme – sondern geht es auch darum, wieviel ich bereit bin, von dem Stück Kuchen, das ich besitze, an andere abzugeben. Doch wenn man sich vergessen oder vernachlässigt fühlt, ist es leicht, diese Angst in Wut umzuwandeln. Und genau dies versucht die AfD für sich selbst zu nutzen. Die Gefühle und das Politische sind nicht trennbar voneinander (Helfritzsch, 2022).
Ganz konkret überträgt die AfD diese Angst vor Ungerechtigkeit auf Hetze gegen “Migranten” (als Begriff, der alle BIJPoC meint) als Bedrohung. Dies geschieht auf ganz verschiedenen Ebenen. Die AfD behauptet, dass Migration Wohlstand in Deutschland bedrohe und sogar dazu führe, dass Deutschland sich “abschaffe” (Sarrazin, 2010). BIJPoC werden also als Gefahr für den deutschen Volkskörper inszeniert, als jene, die weißen Deutschen Sozialleistungen und Arbeitsplätze wegnehmen würden – aber auch als Kriminelle. Insbesondere muslimische und Schwarze Männern werden als Messerstecher oder Vergewaltiger inszeniert. Am Ende läuft bei der AfD alles darauf hinaus, das Ende von Migration als Lösung für alles zu inszenieren – und zwar, obwohl das gar keine der real anstehenden Probleme löst. Aber ist es nun bedrohlicher, den Hitlergruß wieder zu erlauben oder das N-Wort zu verbieten? Wie sollte jemand wirklich “Sicherheit” daraus beziehen, dass Hitlergruß oder das N-Wort erlaubt sind? Und was genau verbessert das Verbot des Gendersterns? Werden dadurch Renten erhöht?
3. “Ich möchte in einem ehrlichen Land Leben.” – Wieso dann Politik mit Lügen machen?
Wer möchte nicht in einer ehrlichen Welt leben? Eine Welt, in der man darauf vertrauen kann, was das Gegenüber sagt, und, noch bedeutender, was Personen sagen, denen ich vertrauen möchte oder muss. Insbesondere Politiker*innen, die ja Interessen ihrer Wähler*innen oder, zumindest sofern sie in der Regierungsverantwortung sind, aller Menschen eines Landes vertreten müssen, sind in der Pflicht, faktenbasiert und wahrheitsgetreu zu argumentieren. Dass dies nicht der Fall sei, ist eine zentrale Behauptung der AfD, aus der sie dann auch ihre eigene moralische Überlegenheit und politische Legitimation zieht. Ein Beispiel dafür ist, dass die AfD einerseits von “parteipolitischer Monopolbildung” spricht, obwohl die aktuelle Regierung aus einer sehr komplizierten Koalition von drei Parteien besteht, andererseits aber selbst offen einen starken autokratischen Staat fordert (Bittner, 2024), was eine klare parteipolitische Monopolbildung wäre. Oder, ein anderes Beispiel: Die AfD spricht von “Lügenpresse” und fehlender Meinungsfreiheit, während sie selbst Zensur betreibt und beispielsweise Kommentare unter ihren Social Media Posts, die nicht in ihr Meinungsbild passen, schlicht löscht (Report Mainz). Das Paradoxe daran ist, dass die AfD das Vertrauen in die Politik unterwandert und damit zugleich die Glaubwürdigkeit ihrer eigenen Lügen erhöht (Bittner, 2024).
Genau genommen setzt die AfD ganz bewusst auf die Lüge als politischer Strategie. In vielen Interviews widersprechen sich AfD-Politiker*innen selbst innerhalb weniger Minuten. Alexander Wiesner, AfD Landtagsabgeordneter in Sachsen, behauptet etwa im Laufe eines 5-minütigen Interviews von Sachsen-Fernsehen sowohl, dass Frauen nicht weniger als Männer verdienen würden (Sachsen-Fernsehen, 2023, 1:00-1:04), als auch, dass es richtig sei, dass Frauen weniger verdienen als Männer (ebenda, 4:47-4:52). Tatsächlich lag der Gender Pay Gap 2022 in Sachsen noch bei 8 % (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2023).
Doch nicht nur diese Widersprüche zeichnen die AfD aus. Zudem ist es charakteristisch für die AfD, sich Zahlen, Statistiken und Fakten einfach auszudenken. So erfand Björn Höcke etwa in einem TV-Duell von Welt-TV am 11.04.2024 schlicht, dass 110 Milliarden EUR in die Entwicklungshilfe und Asylpolitik gesteckt werden. Tatsächlich betragen die Ausgaben für öffentliche Entwicklungsleistungen aber nur ca. 34 Milliarden EUR (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) und für Asylpolitik zwischen 17 und 27 Milliarden EUR (Bundeszentrale für politische Bildung, 2023; Statista, 2024a). Die Gesamtkosten liegen also tatsächlich nur bei etwa der Hälfte bis maximal Zweidrittel der von Höcke genannten Summe. Und um die Pläne der AfD, Deutschland aus dem Euro und der EU herauszureißen, zu rechtfertigen, log er flott vor sich hin, dass der Brexit eine wirtschaftliche Erfolgsstory sei. Tatsächlich rutschte Großbritannien durch die Folgen des Bruchs mit der EU von einer wirtschaftlichen Top-Position innerhalb der G7 Staaten hin zu einem der Schlusslichter (Stojanovic Tetlow). Thomas Hestermann (2019) arbeitete, um ein letztes Beispiel zu nennen, darauf hin, dass die AfD mit komplett falschen Zahlen arbeitet, wenn es um die Nationalität von Tatverdächtigen geht. Sie behauptet, dass 95% dieser “Ausländer” versus 5% Deutsche seien. Tatsächlich aber beläuft sich die Zahl von Tatverdächtigem mit deutschem Pass auf 65,5 Prozent.
Bislang deutet wenig darauf hin, dass sich AfD-Sympathisant*innen an diesen Lügen stören. Die AfD vertritt offensiv, dass es zum Erreichen der eigenen politischen Ziele legitim sei, zu lügen. Das scheint auch von den Sympathisant*innen der AfD so akzeptiert und auch geteilt zu werden.
4. Die AfD und soziale Medien
Von allen Parteien verzeichnet die AfD im Schnitt die meisten Interaktionen auf den führenden Social Media Plattformen (Hillje, 2024). Die überdurchschnittliche Reichweite der AfD lässt sich vor allem mit ihrer fehlenden Scheu vor emotionalen Botschaften und einer großen Investition in Social Media Kampagnen erklären. Doch wieso gerade Social Media?
Einerseits lassen sich Social Media Plattformen sehr gut dazu benutzen, vereinfachende und polarisierende Inhalte schnell an viele Menschen zu verbreiten. Weil ebensolche Beiträge im Schnitt länger angesehen werden als andere, werden sie vom Algorithmus bevorzugt. Das bedeutet, sie werden öfter vorgeschlagen als andere Beiträge und generieren somit eine größere Reichweite. Ebenjene Algorithmen weiß die AfD für sich zu nutzen. Sie verpackt ihre meist populistischen Aussagen in aktuellen Trends folgenden und emotionalisierenden Videos und generiert somit enorme Aufrufzahlen, welche wiederum zu einer erhöhten Interaktionsrate und somit auch zu einer großen Reichweite führen.
Zusätzlich stellen Social Media Plattformen den perfekten Ort dar, um ein junges Publikum zu erreichen. Dies geschieht neben den polarisierenden Inhalten häufig auch unterschwellig. Durch vermeintlich harmlose Beiträge, wie Memes, Lifestyle- oder Fitnessvideos wird nicht selten verdeckt diskriminierendes oder populistisches Gedankengut vermittelt, wodurch die Zuschauer*innen Stück für Stück an rechtsextreme Ideen herangeführt werden. Oft spielen dabei nicht nur offizielle Accounts der AfD eine Rolle, sondern auch AfD-nahe Einzelpersonen, Gruppierungen oder Magazine. Dass diese Vorgehensweisen schon Erfolg verbuchen, scheint sich bereits bei den jüngeren Menschen zu zeigen. Denn mit dem Ausbauen der TikTok-Aktivitäten der AfD stieg auch die Zahl der Erstwähler*innen, welche die AfD wählten. Diese stimmten beispielsweise in den bayerischen Landtagswahlen 2023 mit 16 % für die AfD (Statista, 2024c). Auch Schüler*innenvertretungen mehrerer Bundesländer warnen bereits vor immer mehr rechtsextremen Vorfällen an Schulen.
Die intensive Nutzung der Sozialen Medien beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Partei selbst. Auch ihre Sympathisant*innen nutzen dieses Tool, um rechte Parolen zu reproduzieren. Ein Blick in die Kommentare unter Tagesschau-Posts auf Instagram zeigt, wie sehr rechtsradikale und diskriminierende Aussagen hier dominieren. So z.B. die ersten Kommentare unter einem Reel zu Muslimfeindlichkeit vom 17.07.2024 (Tagesschau, 2024b):
Diese ersten sechs Kommentare stehen beispielhaft für eine Schar an rechtsradikalen Stimmen unter solchen Social Media Beiträgen. Solche Hasskommentare machen oft eine erschreckende Mehrheit aus. Doch die Überzahl der Kommentare spiegelt nicht die Gesellschaft wider. Laut einer Studie mit dem Institute for Strategic Dialogue, in der hunderte Diskussionen auf Facebook ausgewertet wurden, würden ca. die Hälfte der Hass-Kommentare von 5% der Accounts stammen. Die Akteur*innen hinter solchen Hassbotschaften betreiben zudem oft mehrere Accounts, durch die sie ihre Stimmen zusätzlich vervielfältigen können. Meist gehören sie gut organisierten Gruppierungen um die AfD und den “Identitären” an. Die bewusst koordinierten und polarisierten Debatten bekommen durch die Wirkweise der Algorithmen zusätzlich eine erhöhte Reichweite. So wird der Eindruck von der durchschnittlichen Meinung der Bevölkerung nach rechts verzerrt und kann im schlimmsten Fall zu einer falschen Gewichtung in der Reaktion von Politik und Medien führen (Eckert & Gensing, 2019).
Da Posts auf Sozialen Plattformen keine seriösen Quellenangaben voraussetzen, bieten sie einen idealen Rahmen, um Fake-News und Lügen zu verbreiten. Hinzu kommt, dass durch KI Informationen manipuliert werden können. So erstellte die AfD etwa für die Weihnachtszeit 2023 einen digitalen “Ampelkalender“ mit 24 gefälschten Audiodateien, in denen sich beispielsweise Scholz, Lindner und Baerbock für die Wahl der AfD aussprechen. Auch wenn diese Dateien im Kontext leicht als Fakes zu erkennen sind, sollte es doch Sorge bereiten, welche Tore solche Projekte öffnen. Deep Fakes können schon jetzt kaum von echtem Videomaterial unterschieden werden. Damit ließe sich also eine ganze Welt aus Lügen mit “Beweismaterial“ in Form gefälschter Videos und Fotos untermauern. Die Schwellen dafür sinken mit zunehmendem technischen Fortschritt, Knowhow und Trainingsdaten immer weiter. Somit verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Lüge und es wird immer schwieriger, Aussagen einzuordnen (Bieß & Pawelek, 2020).