Tötet das Imperium, bevor es alle um sich herum tötet

Tötet das Imperium, bevor es alle um sich herum tötet

Christoph Wälz (Übersetzung, 25.03.20022)

In dem Antikriegs-Newsletter #19 des oppositionellen russischen Studierendenmagazins DOXA vom 21. März 2022 schreibt eine anonyme Autorin:


Ich habe heute viel über imperialen Nationalismus nachgedacht, und ich möchte, dass wir gemeinsam darüber nachdenken. Darüber, wie er zu einer tragenden Säule der Macht in Russland geworden ist und sehr einfache Antworten auf die komplexen Fragen der Bevölkerung bietet. Es zeigt sich, dass es von "wir vermieten nur an Slawen" bis zu "die Ukraine als Staat existiert nicht" nur ein Katzensprung ist. Der Gedanke liegt auf der Hand (schimpft nicht mit mir, wenn ich trivial bin), aber manchmal dreht sich etwas in eurem Kopf oder in einem anderen Teil eures Körpers und der Gedanke wird so klar und sogar greifbar, als ob ihr ihn mit euren Händen berühren könntet. Ich denke, das nennt man "sich etwas bewusst werden".

Heute wurde mir bewusst, welche Folgen der imperiale Nationalismus hat. Hinter der Forderung nach "Entnazifizierung" verbirgt sich tatsächlich die nationalistische Unterdrückung einer anderen Kultur, Sprache und Lebensweise. Eine totale Blindheit oder Ignoranz gegenüber allem, was anders ist als "russisch" (was dieses "russisch" ist, weiß ich übrigens auch nicht, aber das ist ein Thema für ein anderes Gespräch).

Nationalismus ist zweifellos etwas Schlechtes, wir haben in der Schule viel darüber gehört, vor allem in Unterrichtsstunden der patriotischen Erziehung zum Tag des Sieges [zum Gedenken an den 9. Mai 1945, Anm. d. Ü.] - dagegen haben weder die Leser:innen von "DOXA" noch die Zuschauer:innen des "Ersten Kanals" etwas einzuwenden. Niemand will sich als Nationalist:in bezeichnen, selbst wenn er beim Anblick von Migrant:innen aus Zentralasien zusammenzuckt oder sich fragt, warum Georgier:innen nicht auf Russisch mit ihm sprechen. Aber genau das ist der Nationalismus - der Imperialismus, das Gefühl der Überlegenheit, des Auserwähltseins, der Sonderrolle, was auch immer - und er ist mörderisch. Im Moment tötet er die Zivilist:innen in der Ukraine, die sogar in den besetzten Städten auf die Straße gehen, um ihre Freiheit und ihr Recht auf eine Identität zu verteidigen.

Noch schlimmer wird dieser imperiale Nationalismus dadurch, dass man ihn sich nicht bewusst macht. Das ermöglicht es einem, ruhig zu schlafen, wenn das eigene Land in einem Nachbarstaat einen verheerenden Krieg führt. Das ist ja schließlich gar kein eigener Staat, und die Menschen dort haben vergessen, dass sie eigentlich in unserer "russischen Welt" verwurzelt sind, und wir können ihnen nur beibringen, wie man lebt, und zwar zum Guten.

Ich habe früher einmal gesagt, dass die ukrainische Sprache eine melodiöse Version der russischen Sprache ist. Ich habe mehrere Jahre gebraucht, um zu verstehen, dass ich mit diesem Satz das Ukrainische durch das Russische definiere, und das war nicht in Ordnung. Gut, dass ich nicht gesagt habe, dass es ein lächerlicher Dialekt des Russischen ist - das habe ich auch schon gehört. Das Imperium muss sterben, und jetzt ist es an der Zeit, es in uns selber zu töten.

Frieden für die Ukraine, Freiheit für Russland!


Quelle: https://mailchi.mp/doxajournal/antiwarletter-19?e=87f7b4ac3c

Übersetzung: Christoph Wälz (https://linktr.ee/ChristophWaelz) 

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