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Yuriko Wahl-Immel, dpa
„Der Suchtkranke kreist nur um sich selbst und hat die Kinder nicht im Blick“: Eine Frau hinter leeren Bierflaschen. Foto: Alexander Heinl/dpa
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Mehr als drei Millionen Kinder und Jugendliche wachsen mit alkohol- oder drogenabhängigen Eltern auf. Manche zerbrechen daran. Eine Caritas-Beraterin berichtet von drastischen Schicksalen.
Als sie 13 Jahre alt ist, fügt sich Amelie immer wieder Schnittverletzungen an den Beinen zu. Der Kinderarzt wird aufmerksam. Ihre Mutter sucht Hilfe, findet einen Kinderpsychologen. Amelies Vater ist schwer alkoholabhängig.
Er trinkt schon, als seine Tochter zur Welt kommt. Zweimal ist er lange in einer Entzugsklinik. Es hört aber nicht auf. „Es ging mir sehr schlecht. In der Schule habe ich total abgebaut“, erzählt die heute 17-Jährige aus Neuss. „Ein Jahr lang war ich komplett zerbrochen, habe mich von der sozialen Welt isoliert.“ Der Vater schlägt Amelies Mutter. Auch ihre jüngere Schwester leidet, hat Angst. Eine extreme Lage.
Mehr als drei Millionen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene werden in suchtbelasteten Familien groß, schätzt die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen. Die Dunkelziffer sei noch viel höher. Die meisten haben alkoholkranke Eltern, oft ist es auch Drogenabhängigkeit. Die Kinder sind permanent überfordert, es kommt häufig zu psychischen oder sozialen Störungen. Viele haben später selbst Alkohol- oder Drogenprobleme.
Amelie wirkt überraschend ruhig, reflektiert. Sie macht gerade ihren Realschulabschluss nach und zugleich eine Ausbildung als Sozialassistentin - alles andere als selbstverständlich. Denn die Alkoholsucht ihres Vaters zieht sich durch ihr ganzes Leben. Als sie noch klein war, flüchtete ihre Mutter mit ihr monatelang zu den Großeltern, sagt die 17-Jährige. Beim ersten Entzug des Vaters ging Amelie noch zur Grundschule. Fast vier Jahre lang - bis Mitte 2020 - wird sie unterstützt von Kids im Zentrum (KiZ) der Caritas in Neuss. Wie auch viele andere Jungen und Mädchen mit süchtigen Eltern.
„Der Suchtkranke kreist nur um sich selbst und hat die Kinder nicht im Blick“, schildert KiZ-Mitarbeiterin Susanne Ricken. „Kinder übernehmen Eltern-Verantwortung, sie dürfen keine Kinder sein, ihre Gefühle nicht ausleben und sie sind häufig sehr einsam.“ Bei KiZ können sich die Jungen und Mädchen in einer Gruppe austauschen, spielen, toben, es gibt Ausflüge und Freizeiten. „Bei uns lernt man auch, über die Situation zu sprechen. Wir bieten feste Ansprechpartner und stabile Beziehungen“, sagt Ricken.
Amelie hat viel zu tragen. Wenn der Vater durchdreht, die Mutter flüchtet, ist es Amelie, die versucht, den Vater zu beruhigen. Doch immer wieder packt die Mutter ihre Kinder und schlüpft bei einer Freundin unter. Die Kinder tastet der Vater nicht an. Amelie kümmert sich als große Schwester um die Jüngere, lenkt sie ab, kocht.
Inzwischen sei es besser geworden, meint sie. Vielleicht ist Amelie aber auch nach externer Hilfe gefestigter. Der Vater trinkt weiter abends Bier und Korn, versteckt den Alkohol. „Wir erkennen sofort, ob er betrunken ist oder nicht.“ Ihre Schwester ist jetzt zwölf. „Wenn mein Vater trinkt, hat er keine Kontrolle.“ Aber er werde nicht mehr handgreiflich gegen die Mutter. „Weil er Angst hat, dass wir sonst alle weg sind.“
Wie viele Kinder suchtkranker Eltern fühlte sich Amelie schuldig. „Früher habe ich alles auf mich geschoben. Ich dachte, er trinkt wegen mir, weil er erst 24 war, als ich auf die Welt kam.“ Heute weiß sie: „Er ist krank, süchtig nach Alkohol.“ Ihre Mutter habe manchmal „einen Hass“ auf ihn und schlaflose Nächte, die Kinder aber immer nach Kräften unterstützt. Habe der Vater keinen Alkohol intus, könne man prima mit ihm auskommen.
„Auch suchtkranke Eltern wollen gute Eltern sein“, betont Ricken. Zum KiZ kommen Kinder ab sechs Jahre, der Bedarf ist enorm. Sexueller Missbrauch und Vernachlässigung sind nicht selten. Manchmal wird mit anderen Fachstellen für eine sichere Unterbringung im Heim gesorgt. Den Kindern fehlt Anregung, sie haben viele Defizite, Lernschwächen, fallen in der schulischen Leistung ab. „Es gibt es viele Kinder, denen man helfen könnte. Verarbeitet man das Thema nicht, holt es einen später ein, so etwas geht niemals spurlos an einem Menschen vorbei.“ Dennoch gebe es zu wenig Hilfsangebote, die Finanzierung sei schlecht.
Auch Spielsucht habe erhebliche Auswirkungen auf die ganze Familie. „Wenn das gesamte Hab und Gut verspielt wird, bleibt nichts mehr übrig für die Kinder“, erläutert Ricken. Weil Sucht als Schande gelte, versuchten in der Regel alle Familienmitglieder, Probleme zu verheimlichen. Amelies Familie habe man nach außen nichts angemerkt. „Aber wir wussten, wie sehr die Kinder gelitten haben.“
Amelie ist auf einem guten Weg. Mit 16 hat sie ihren Hauptschulabschluss gemacht. „Ich hätte mehr schaffen können.“ Das holt sie nach, strebt im zweiten Schritt eine Ausbildung zur Erzieherin an. Ihr Blick auf den Vater ist milde: Er habe eine furchtbare Kindheit gehabt, mit Alkohol, Gewalt, mehreren Pflegefamilien. Sie selbst ist dankbar für die Hilfe. „Mir würde es viel schlechter gehen sonst. Die Ausbildung hätte ich nie angefangen.“
© dpa-infocom, dpa:211230-99-540659/2
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