Russland scheitert bei Awdijiwka, greift aber trotzdem weiter an

Russland scheitert bei Awdijiwka, greift aber trotzdem weiter an

Nico Lange

Russland scheitert bei Awdijiwka, dringt aber mit Angriffen an mehreren Frontabschnitten geringfügig vor. Die Ukraine leidet Mangel, setzt jedoch die Krim weiterhin unter Druck. Wie ist die Lage und was wird gebraucht?

Der russische Großangriff mit dem Ziel der vollständigen Eroberung von Awdijiwka ist gescheitert. Russland erreichte damit erneut eines seiner selbst formulierten militärischen Ziele nicht.


Russland verlor bei Awdijiwka bisher etwa 20.000 Soldaten durch Tod und Verwundung. Etwa 500 Kampfpanzer, Schützenpanzer, Haubitzen und andere Fahrzeuge wurden zerstört. Mit diesem Aufwand erreichte Russland nördlich von Awdijiwka bisher etwa 12-15 km Landgewinn, ohne die Stadt einnehmen zu können.

Seit Russland zum Jahresende 2023 entlang der gesamten Frontlinie die Initiative zurückgewann, dringen die russischen Kräfte dennoch an mehreren Frontabschnitten vor. 

Im Nordosten der Front setzt Russland den Beschuss auf ukrainische Gebiete nördlich und südlich von Kupjansk mit hoher Intensität fort. Der Frontverlauf bleibt bisher unverändert. Die Ukraine evakuiert dort aber weitere Ortschaften. 

Nach dem Scheitern der Einnahme von Awdijiwka sind in Richtung Kupjansk die nächsten größeren russischen Angriffsbemühungen zu erwarten. Vor den Präsidentschaftswahlen im März besteht politischer Druck, um jeden Preis irgendeinen vorzeigbaren Erfolg vorzuweisen.

Westlich von Bachmut und westlich von Marjinka greift Russland weiter an und erreicht jeweils einige hundert Meter Geländegewinne.

Russland nimmt zwischen Werbowe und Robotyne einige Stellungen wieder ein, die die Ukraine unter hohem Aufwand während der Gegenoffensive zurückerobert hatte. 

Die Verluste einzelner Stellungen sind psychologisch für die Ukraine bitter. Die neue Verteidigungsstrategie, nicht jeden Meter zu halten, sondern flexibel zu verzögern und sich auf hohe Verluste der russischen Seite zu konzentrieren, ist militärisch jedoch sinnvoll.

Zusätzlich zu den Vorstoßversuchen an der Front intensiviert Russland kombinierte Luftangriffe mit Marschflugkörpern, ballistischen Raketen, aeroballistischen Raketen, Drohnen und konvertierten S-300 Raketen. 

Die russischen Luftangriffe zielen einerseits auf Infrastrukturen und auf Terror gegen die Zivilbevölkerung, anderseits auf die Produktion der ukrainischen Rüstungsindustrie. Sie dienen auch der Propaganda im russischen Fernsehen.

Die russische Strategie für 2024 scheint zu sein, den Krieg mindestens bis zu den US-Präsidentschaftswahlen fortzuführen und dabei ohne Rücksicht auf Verluste möglichst viel Land hinzuzugewinnen und die bisherigen Eroberungen zu verteidigen.

Russland hebt unterhalb der Schwelle einer öffentlich sichtbaren großen Mobilmachung derzeit etwa 1000 neue Soldaten pro Tag aus. Selbst extreme Verluste wie bei Awdijiwka lassen sich damit immer wieder ausgleichen.

Russland hat seine Rüstungsproduktion hochgefahren, umgeht erfolgreich Sanktionen und fühlt sich durch die innenpolitische Blockade der Militärhilfen für die Ukraine in den USA derzeit ermutigt.

Nachdem die Ukraine, die USA und andere Partner seit Monaten öffentlich viel über die Steigerung der ukrainischen Rüstungsproduktion und gemeinsame Produktion in der Ukraine sprachen, beschießt Russland jetzt gezielt ukrainische Rüstungsbetriebe mit Raketen.

Die Ukraine braucht weiterhin viel mehr Artilleriemunition und höhere Produktionskapazitäten für Artilleriemunition in Europa. 

Die ersten Versuche der Abwehr russischer Raketen mit elektronischer Kampfführung und FrankenSAM, also mit moderner Technik nachgerüsteter postsowjetischer Systeme, waren erfolgreich, so dass hier sehr schnell multipliziert und ausgebaut werden sollte.

Die Partner der Ukraine sollten noch einmal einen Kraftakt unternehmen, um noch mehr moderne Luftverteidigungssysteme in die Ukraine zu bringen. Perspektivisch muss über Möglichkeiten des Abschusses russischer Raketen in Reichweite auch von außerhalb der Ukraine nachgedacht werden.

Die Ukraine braucht Nachschub bei Präzisionswaffen. Frankreich ging hier zuletzt mit 40 weiteren SCALP-EG Marschflugkörpern voran. ATACMS mit Monoblock-Sprengköpfen, GLSDB und Taurus sollten schnell folgen. 

Reparaturwerkstätten und Instandsetzung für Kampfpanzer und Schützenpanzer müssen näher an die Front, auch durch Kooperationen westlicher Unternehmen mit der Ukraine. Die Luftverteidigung der Industrie muss dabei mitbedacht werden.

F-16, Gripen und Mirage sollten geliefert und eingesetzt werden, um in Frontnähe gegen russische Flugzeuge und aufgerüstete Gleitbomben vorgehen zu können, gegen die die Ukraine bisher fast wehrlos ist. 

Es würde der Ukraine sehr helfen, wenn westliche Staaten die Verwendung moderner CNC-Maschinen, Bauteile und Technologien für die russische Rüstungsindustrie besser unterbinden würden. Das achselzuckend laufen zu lassen, ist ein Fehler.

Die Ukraine braucht mehr Drohnenabwehr und Komponenten für die erfolgreichen ukrainischen Drohnenprogramme, die derzeit zumindest teilweise Munitions- und Ressourcenmangel ausgleichen können.

Die Ukraine braucht einen politischen Strategiewechsel wichtiger Unterstützer. Mit Hilfe für militärische Durchsetzungsfähigkeit der Ukraine statt für reines Überleben bei gleichzeitigen langfristigen Sicherheitszusagen inklusive der Perspektive auf die NATO-Mitgliedschaft wäre 2024 ein Weg zu Frieden und Stabilität möglich.

 Karte: @War_Mapper @AndrewPerpetua

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