Russland drückt in Richtung Pokrowsk und die Ukrainer leiden unter Energiemangel

Russland drückt in Richtung Pokrowsk und die Ukrainer leiden unter Energiemangel

Nico Lange

Die Ukraine fügte Russland im Gebiet Charkiw sehr hohe Verluste zu, gerät aber vor allem in Richtung Pokrowsk in ernsthafte Probleme. Russland setzt weiter auf Gleitbomben und Frontalangriffe und arbeitet langsam auf strategische Wegmarken hin. Wie ist die Lage und was wird gebraucht?

Der russische Angriff im Gebiet Charkiw ist gescheitert. Lediglich in der grenznahen Stadt Wowtschansk und in kleineren Abschnitten der Front nahe der Grenze gibt es weiter Kämpfe.

Russland brachte nach dem Steckenbleiben des Angriffs hochwertige Luftlandetruppen und Marineinfanterie als Verstärkungen ein. Doch auch diese Einheiten konnten das Blatt nicht mehr wenden und erlitten hohe Verluste.

Auch wenn Russland und seine Proxies den Angriff im Nachhinein herunterspielen, kommt der gescheiterten Charkiw-Offensive hohe Bedeutung zu, da für Russland sehr viel Material und Personal fast ohne Ergebnis verloren gingen.

Da die Ukraine ihrerseits Reserven für das Gebiet Charkiw mobilisieren musste, kann Russland unterdessen aber an der Front im Osten die relative Schwäche der dortigen ukrainischen Truppen ausnutzen.

Russland setzt seine Luftwaffe mit dem Abwurf von mehr als hundert Gleitbomben pro Tag mittlerweile effektiv ein und bereitet damit den Weg für Frontalangriffe mit Schützenpanzern und Infanterie.

Russland treibt vor allem den Angriffsvektor über Otscheretyne hinaus weiter voran. Das Ziel scheint eine strategisch wichtige Kreuzung an der Straße zwischen Pokrowsk und Kostjantyniwka zu ein. 

Ein Vordringen Russlands an die Straße T0504 könnte die Lage für Kostjantyniwka (früher 70.000 Einwohner), die gesamte Region im Donbass, aber auch in Richtung Pokrowsk (61.000) und Pawlograd (108.000) verändern. Russland würde damit nach dem bisher rein taktischen Vordringen in Bachmut und Awdijiwka eine strategische Wegmarke erreichen.

Die Ukraine verteidigt weiter die Ortschaft Tschassiw Jar, die aufgrund der Höhenlage und dem größeren Teil der Stadt hinter einem Kanal günstige Voraussetzungen für eine lange Verteidigung bietet.

Russland stößt aus südlicher Richtung in Richtung Nju-Jork vor und bringt mit dem Vordringen in den Ort einen gesamten Frontabschnitt westlich des besetzten Horliwka für die Ukraine in Bedrängnis.

Russland greift außerdem aus Richtung Kreminna in Richtung Torske und weiterhin westlich von Marjinka an, allerdings jeweils mit geringen Ergebnissen.

Nach der Rückeroberung von Werbowe brachte Russland im Süden jetzt auch Robotyne vollständig unter Kontrolle und machte damit Ergebnisse der ukrainischen Gegenoffensive von 2023 wieder rückgängig.

Russland beutet seit Monaten die Wehrlosigkeit der Ukraine gegen Gleitbomben aus. Die Wirkungen für Ortschaften und Streitkräfte der Ukraine, auch die psychologischen Wirkungen sind verheerend.

Zur Abwehr der Flugzeuge mit Gleitbomben braucht die Ukraine endlich die angekündigten F/16 und weitere moderne Kampfflugzeuge, Luft-Luft-Raketen und moderne Luftverteidigungssysteme. 

Die Versorgung mit Artilleriemunition ist zwar jetzt etwas besser, aber weiter wird viel Munition für Mörser, Artillerie und Raketenartillerie gebraucht.

Die Ukraine braucht mehr Fähigkeiten und Munitionstypen für Präzisionsschläge mit hohen Reichweiten. Dazu gehören auch die deutschen Taurus-Marschflugkörper, die militärisch weiterhin notwendig sind.

Die Ukraine braucht die Aufhebung aller Restriktionen zur freien Nutzung durch Partner gelieferter Waffensysteme und Munition im Rahmen des Völkerrechts.

Die Ukraine braucht Drohnen, die gegen russische elektronische Kampfführung gehärtet sind und mehr Instrumente zur wirtschaftlich sinnvollen Drohnenabwehr. 

Die Ukraine braucht Komponenten, Bauteile und Investitionen für den ukrainischen Verteidigungssektor. Partner der Ukraine sollten einen Anteil der finanziell zugesicherten Militärhilfen direkt in ukrainische Produkte und in die ukrainische Industrie investieren.

Die Ukraine braucht Wartung und Instandsetzung für gepanzerte Fahrzeuge und Artilleriesysteme näher an der Front, die Erlaubnis zum Herstellen von Ersatzteilen in der Ukraine und westliche Industriepartner direkt vor Ort.

Die Ukraine braucht ständige Nachlieferungen leistungsfähiger Schützenpanzer wie Bradley, CV-90, Marder und weitere. Schützenpanzer stellen sich im Kriegsverlauf immer wieder als wichtiger als Kampfpanzer heraus.

Wiederholte Ankündigungen von Militärhilfen, die für politische Entscheider im Westen kommunikative Entlastung schaffen, ändern noch nichts auf dem Schlachtfeld. Die Partner der Ukraine setzen ihre Ankündigung bisher unzureichend und viel zu langsam um.

Wahlen in den USA, Selbstblockade der Regierungen in Frankreich und Deutschland sowie Neuaufstellung der EU-Institutionen fallen nach dem Sommer mit einer militärisch kritischer werdenden Situation im Osten der Ukraine zusammen.

Hinzu kommt, dass die geringe Verfügbarkeit von Strom aufgrund zerstörter Kraftwerke ukrainische Wirtschaft und Menschen in der Ukraine in existenzielle Nöte bringt, was zu Zahlungsproblemen und neuer Massenflucht führen könnte.

Putin schließt aus den ausbleibenden Reaktionen auf die Bombardierung der Krebsklinik für Kinder und der Blockade strategischer Entscheidungen auf dem NATO-Gipfel, dass seine wichtigste Waffe, die Einschüchterung, weiterhin funktioniert.

Verhandlungen werden nur möglich, wenn die ukrainische Seite militärischen Druck aufbauen kann und gleichzeitig Antworten auf die Frage nach langfristige Sicherheitsgarantien bekommt. Solange beides nicht gelingt, wird Putin weiter Fakten schaffen, gegebenenfalls mit jahrelangem weiteren Vorrücken Dorf um Dorf.

Die bisherige Strategie wesentlicher Partner der Ukraine, angeführt von den USA, verweigerte zwar Putin das Erreichen seiner militärischen Ziele, ist aber sehr teuer und kommt erkennbar an ihr Ende. Eine neue Strategie sollte sich das Ziel schnellerer militärischer Entscheidung zugunsten der Ukraine setzen und die dafür notwendigen Ressourcen rasch in Anschlag bringen.

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Karte: @War_Mapper @AndrewPerpetua

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