Russische Angriffe könnten in Kürze zum Erliegen kommen, die Ukraine bereitet eine Gegenoffensive vor
Nico LangeRussland greift weiter Bachmut an und Awdijiwka an, aber die russischen Angriffe könnten in Kürze zum Erliegen kommen. Die Ukraine bereitet eine Gegenoffensive vor. Wie ist die Lage und was wird gebraucht?
Die Intensität der Kampfhandlungen sank in den vergangenen Wochen insgesamt. Russland greift weiter Bachmut und Awdijiwka an. Sowohl im Nordosten bei Swatowe-Kupjansk und Kreminna-Lyman als auch weiter südlich bei Wuhledar zeigen sich aktuell von beiden Seiten nur wenig Aktivitäten.
Die Gruppe Wagner hisste zwar eine russische Flagge auf dem Rathaus von Bachmut, das bedeutet aber nicht, dass die Stadt unter russischer Kontrolle ist. Etwa ein Drittel der Stadt wird im westlichen Teil weiter von der Ukraine gehalten und verteidigt.
Im Stadtgebiet Bachmut gibt es langwierige Kämpfe um einzelne Häuserblocks und Straßenkreuzungen. Die russischen Vorstöße um Bachmut herum und auf der Straße zwischen Bachmut und Slowjansk scheinen zumindest vorerst zum Stehen gekommen zu sein.
Die Lage bei Awdijiwka ist derzeit teilweise unübersichtlich und insgesamt für die ukrainische Seite kritisch. Russland nutzt offenbar verbliebene Kräfte aus den gescheiterten Angriffen bei Wuhledar, um weiter Druck auf Awdijiwka auszuüben.
Die Ukraine verfügt über gut ausgebaute Stellungen westlich von Awdijiwka, in die ein Rückzug bei einem Verlust der Stadt möglich wäre.
Die Ukraine braucht weiter Zeit zum Sammeln, Organisieren, Ausbilden und Üben der Kräfte für eine Gegenoffensive. Noch reicht der Übungsstand der dafür aufgestellten Brigaden für ein Gefecht der verbundenen Waffen und einen bestmöglichen Einsatz der gelieferten Waffensysteme nicht aus.
Ein unreifer, verfrühter Gegenangriff könnte für die Ukraine fatale Folgen haben und würde wertvolle unwiederbringliche Ressourcen verschwenden. Strategische Geduld ist jetzt besonders wichtig. Politischer Druck auf einen früheren Beginn der Gegenoffensive sollte unbedingt vermieden werden.
Die Partner der Ukraine sollten weiter liefern und nach den letzten großen Lieferungen nicht erneut passiv abwarten, was passiert. Die Ukraine braucht noch deutlich mehr Ressourcen, um bei einem möglichen Durchbruch der Front eine Gegenoffensive weiter ausbauen zu können.
Es wäre ein Fehler, dem politisch verlockenden Gedanken nachzugeben, dass die Ukraine mit dem kommenden Gegenangriff “noch einen letzten Versuch” habe und dass dann Verhandlungen kämen, um daraus eine Zeitplanung abzuleiten.
Eine langfristige Planung der Produktion und Lieferungen von Munition und Waffensystemen an die Ukraine sowie der Ausbildung für das gesamte Jahr 2023 und in das Jahr 2024 hinein ist notwendig.
Konkret gebraucht wird weiterhin viel Artilleriemunition. Zwar wird darüber viel gesprochen, handfesten Nachschub oder greifbare Planungen für massive Lieferungen gibt es jedoch nicht. Putin scheint noch davon überzeugt, dass er bei der Munitionsproduktion langfristig im Vorteil sein wird.
Die Ukraine braucht Waffen und Munition mit höheren Reichweiten. Zwar lassen sich mit den aus der Slowakei und Polen gelieferten MiG-29 auch entfernte Ziele bekämpfen, aber landgestützte Waffensysteme, die russische Logistik, Führung und Kommunikation jenseits der bisherigen Reichweiten ausschalten können, sind dringend notwendig.
Die Ukraine braucht weiterhin viele kommerzielle Drohnen, vor allem mit Nachtsichtfähigkeiten und mehr Systeme zur kinetischen und elektromagnetischen Drohnenabwehr.
Benötigt werden mehr Funkgeräte und mit Blick auf eine Gegenoffensive mehr Ausrüstung zur schnellen Minenräumung bzw. Minensprengung und zur Überwindung kleiner Gewässer.
Das Thema Multi-Role-Kampfflugzeuge bleibt für die Ukraine weiter auf der Tagesordnung. Luftunterstützung für die eigenen Truppen, für die man Spielraum für Wirkung aus mittleren Höhen gewinnt und Bekämpfung leistungsfähiger russischer Systeme für elektronische Kampfführung stehen dabei im Vordergrund.
Die Ukraine braucht mehr Unterstützung bei der Behandlung von Traumata und der psychologischen Nachbereitung für betroffene Soldatinnen und Soldaten. Entsprechende Kliniken sind überfüllt, in diesem Bereich tätige zivilgesellschaftliche Organisationen kommen an ihre Grenzen.
Psychische und mentale Schäden in der Truppe sind in der Ukraine ein Tabuthema, das auf eine Zeit nach dem Krieg verdrängt wird. Mit der langen Kriegsdauer und einer hohen Zahl an Betroffenen gibt es aber bereits jetzt deutlichen Handlungsbedarf. Diese Arbeit sollte zur Militärhilfe dazugehören.
Die russischen Angriffe könnten in Kürze zum Erliegen kommen. Für eine ukrainische Gegenoffensive braucht es noch Zeit, aber sie hat realistische Chancen. Eine Formel zur Unterstützung der Ukraine lässt sich auf aktuell drei Punkte bringen:
1. Nicht abwarten und zuschauen sondern aktiv bleiben mit einem ständigen Strom neuer Lieferungen.
2. Nicht von Hoffnungen auf ein schnelles Ende leiten lassen sondern langfristig systematisch planen.
3. Nicht in theoretische politische Debatten abgleiten sondern konsequent nüchtern an der militärischen Realität orientieren.
Karte: @War_Mapper
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