Neonazi-Aussteiger: "Beim NSU-Trio stimmt die ganze Geschichte nicht."

Neonazi-Aussteiger: "Beim NSU-Trio stimmt die ganze Geschichte nicht."

overton-magazin.de - Thomas Moser
NSU-UNtersuchungsausschuss II. Bild: Bayerischer Landtag

Mike R. stammt aus Jena, war Neonazi in Nürnberg, beherbergte Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe und trat jetzt als Zeuge im bayerischen Untersuchungsausschuss auf. Die Rolle, die den dreien zugeschrieben werde, sei nicht korrekt, sagte er.

„Ich habe nicht nur Angst vor Leuten in der Szene. Der Verfassungsschutz und der Staatsschutz spielen eine ganz gewichtige Rolle.“

„Sie stufen diese drei zu hoch ein und ermitteln in die falsche Richtung. Mehr sag ich nicht.“ – O-Ton Mike R., ehemaliger Rechtsextremist in Jena und Nürnberg, im NSU-Untersuchungsausschuss II von Bayern, 3. Mai 2023

„Szene & Verfassungsschutz“

In Nürnberg begann im September 2000 die Mordserie des NSU an Gewerbe treibenden Männern mit fremden Wurzeln. Drei der zehn Morde wurden in dieser Stadt verübt. In mindestens zwei Fällen ist belegt, dass Nürnberger Szenemitglieder Kontakte zu den späteren Opfern hatten. Das Trio Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe soll sich mehrfach in der Stadt aufgehalten und mitten in der Szene bewegt haben. Auch die Verschickung der NSU-Propaganda-DVD nach dem Tod von Böhnhardt und Mundlos im November 2011 kennt einen Nürnberger Tatort. Eine der Scheiben wurde von einem bisher Unbekannten beim Verlagshaus der Nürnberger Nachrichten hinterlassen.

Als die Mordserie begann, saß Mike R. im Gefängnis. Er ist ein Insiderzeuge für die Zeit davor und wurde jetzt Anfang Mai in der selben Sitzung des bayerischen NSU-Untersuchungsausschusses vernommen wie der Rechtsextremismus-V-Mann Kai D.

Beide waren einst in der selben Szene unterwegs. Kai D. will aber kein Rechtsextremist gewesen sein, sondern überzeugter Verfassungsschützer, der die Szene habe aufklären wollen, in der er selber eine Führungsposition inne hatte. Mike R. war jahrelang aktiver Rechtsextremist, ehe er Aussteiger wurde. Während er redet, Namen nennt, mal konkret wird, andererseits aber bei Andeutungen bleibt, sträubte sich Kai D. beharrlich, im NSU-Ausschuss belegbare und verantwortungsvolle Aussagen zu machen (Neues vom Verfassungsschutzsumpf).

Mike R. ist Jahrgang 1970 und wuchs in Jena-Winzerla auf, wo auch Uwe Mundlos und Beate Zschäpe wohnten. „Ich kenne die drei aus Jena von früher Jugendzeit an.“ Seine Vernehmung durch den NSU-Untersuchungsausschuss wird per Videokonferenz durchgeführt. Er habe mit der Szene seit 20 Jahren nichts mehr zu tun und wolle es auch nicht. Er ist bereit zu reden, hat in der Vergangenheit auch mit Journalisten gesprochen, sein Name und sein Gesicht blieben unbekannt. Jetzt tritt er öffentlich auf und springt vor Aufregung von Punkt zu Punkt. Er nennt seinen vollen Namen, den er damals trug. Heute heißt er Mike T[…].

Er sei froh, dass er noch lebe; er habe viele haarsträubende Dinge erlebt; er wisse Einiges. Und der Verfassungsschutz wisse das auch. Er habe Angst. „Szene & Verfassungsschutz“, diese Kombination taucht in seinen Schilderungen wiederholt auf.

In Jena in der Hooligan-Szene des FC Carl-Zeiss Jena. Kontakte nach Mönchengladbach zur Borussenfront. 1988/89 schon vor der Wende Flucht aus der DDR. Umzug nach Nürnberg. Dort ebenfalls in der Hoolszene und dadurch Kontakt zu vielen Leute in der rechten Szene.

Bei den Fragen, die er vorab vom Untersuchungsausschuss zugesandt bekam, würden einige Namen fehlen, die damals in der Szene viel zu sagen hatten, sagt Mike R. unaufgefordert. Er nennt die Namen Marco N[…] und Michael R[…] Während Marco N. ab und zu in kritischen Publikationen auftaucht, scheint es von Michael R. keinerlei Spuren zu geben. Der Aussteiger wundert sich: „Von dem hört und sieht man hier nichts.“ Michael R. sei einer der führenden Köpfe in Nürnberg gewesen, so wie Matthias F. Sie seien regelmäßig zusammen unterwegs gewesen: er, Michael R., Matthias F. und Christian W. (NSU-Ausschuss auf den Spuren von Helfern und Mitwissern der Morde).

Michael R. war ihr Fahrer, wenn es zum Beispiel nach Thüringen ging. Bei Aktionen oder Straftaten habe sich R. aber meistens im Hintergrund gehalten. Auch Marco N., dessen Name im Untersuchungsauftrag des Ausschusses ebenfalls fehlt, sei ein großer Kopf in der Szene gewesen und habe über fast alle Aktivitäten Bescheid gewusst. „Seine Rolle ist sehr unklar, er war überall dabei, aber er wird staatlich geschützt.“

Treffpunkt „Führerbunker“

Die Gruppe nannte sich Arische Bruderschaft. Sie habe vor allem für die NPD gearbeitet, Personen beschützt, Plakate geklebt. Er zeigt ein Foto, auf dem er hinter dem NPD-Mann Günter Deckert steht, der eine Rede hält, daneben Matthias F.

Einmal war geplant, das alternative Kulturzentrum KOMM zu stürmen. Die Polizei hat es verhindert. Ein anderer Plan soll gewesen sein, einen Anschlag auf den Nürnberger Justizpalast zu verüben. „Ohne dass jemand umkommen sollte.“ Mike R. will auch den US-amerikanischen Neonazi Gary Lauck getroffen haben.

Die Szene war vernetzt. Sie fuhren nach Thüringen und umgekehrt seien die Jenaer zu ihnen nach Nürnberg gekommen. Zentrale Anlaufstelle war die Wohnung von Mike R. in der Marthastraße 63 im Nürnberger Stadtteil Mögeldorf. Es war immer jemand da, aus Nürnberg, Jena, Chemnitz etwa. „Jeder, der in Deutschland in der Szene war, ist in der Marthastraße durchgelaufen.“ Sie nannten den Treffpunkt „Führerbunker“. Seine Aussagen zu dieser Wohnung decken sich im Wesentlichen mit den Erkenntnissen der Polizei. Die hatte sie unter Beobachtung, wusste, was sich dort abspielte und müsste auch wissen, wer dort verkehrte. „Die Straße wurde von der Polizei 24 Stunden am Tag überwacht.“

Auch das Trio Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe hielt sich mehrfach in der Wohnung auf. Wie oft? „Locker vier-, fünfmal.“ Zusammen sei man durch Nürnberg gezogen. Unter anderem zum Gelände des ehemaligen NS-Reichsparteitages. Aber: „Die Rolle, die Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe zugesprochen wird, ist nicht ganz korrekt. – Sie stufen diese drei zu hoch ein und ermitteln in die falsche Richtung. Mehr sag ich nicht.“

In der Wohnung in der Marthastraße kam es immer wieder zu Vorfällen, Schlägereien, Körperverletzungen. Auch Waffen waren im Spiel: Messer, Armbrust, Pistolen. In den Räumen sollen auch Waffen rumgelegen sein, Luftdruckgewehre. „Keine scharfen Waffen.“ Mehrere Leute sollen Pistolen gehabt haben. Er zwei Stück. Manchmal haben sie nach hinten raus auf Dosen geschossen. Details und Namen will er nicht nennen. „Sie kriegen von mir das Dach, aber das Haus müssen Sie selber bauen.“

Er verschont sich selber nicht und macht sich nicht harmloser als er war. Er hat einmal ein Opfer schwer zusammengeschlagen. Grundlos. „Der hat mir nichts getan.“ Daraufhin wurde er in der Marthastraße von der Polizei verhaftet. Beate Zschäpe sei bei der Tat dabei gewesen. Sie habe als Zeugin aussagen sollen, sei beim Prozess aber nicht erschienen. Mike R. wurde zu einer Haftstrafe verurteilt und stieg aus der Szene aus.

Im Gefängnis bekam er Besuch von Kriminalhauptkommissar Manfred Pfister, Chef des Staatsschutzes in Nürnberg und Mitglied der BAO Bosporus. 2006 befragten die Ermittler im Zusammenhang mit den Ceska-Morden Angehörige der rechtsextremen Szene in Nürnberg , unter anderem Mike R. im Knast. Vermutete die Polizei die Täter also in Neonazi-Kreisen? In seinem Schlussvermerk vom November 2007 schrieb Pfister dann irritierender Weise, die Rechtsextremisten seien der Meinung, bei den Morden handle es sich nicht um fremdenfeindlich motivierte Straftaten. Die Opfer haben sich selber im kriminellen Milieu bewegt und seien einer Vergeltungs- oder Rachetat zum Opfer gefallen.

Neonazis als Sachverständige – und Mordermittler, die ihnen glauben? So naiv können Staatsschützer eigentlich nicht sein. Pfister war im Mai 2012 Zeuge im ersten NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags. Dabei kamen auch diese Befragungen von 2006 zur Sprache (siehe Protokoll S. 97 ff.).

„Ich habe nicht nur Angst vor Leuten in der Szene“

Jetzt, im Jahr 2023, spricht einer dieser damals Befragten zum ersten Mal öffentlich in einem parlamentarischen Ausschuss. Kein leichter Zeuge. Manchmal kann er sich nicht an Namen erinnern, auf einer Fotografie erkennt er Mundlos nicht. Immer wieder bringt er Jahresdaten durcheinander. Sein Aussageverhalten ist mitunter widersprüchlich. Mal wird er konkret, mal weicht er aus, mal bringt er vor, Angst zu haben. Was aber alles nichts daran ändert, dass er nachweislich in der Szene aktiv war und über Kenntnisse verfügen muss.

Einmal stößt ihn der Ausschussvorsitzende Toni Schuberl (Grüne) vor den Kopf: „Sie kommen mir vor, als würden Sie sich wichtigmachen.“ Mike R. beeindruckt das wenig: „Dann ist es halt so.“

Er fragt zurück: „Schützen Sie mich?“

Schuberl: „Vor wem?“

Mike R.: „Wenn ich sage, ich habe Angst, dann wissen Sie doch, was los ist.“

Schuberl: „Ich habe keine Ahnung, wie ich Sie vor Matthias F. schützen soll. Ich weiß nicht, was die Gefahr ist.“

Mike R.: „Ich habe nicht nur Angst vor Leuten in der Szene. Der Verfassungsschutz und der Staatsschutz spielen eine ganz gewichtige Rolle.“

Die Rolle von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe zieht er grundsätzlich in Zweifel. „Die ganze Geschichte stimmt hier nicht.“ Zweifel an der Täterschaft des Trios äußern aber nicht nur ehemalige Mitglieder der Neonazi-Szene immer wieder, was man auch als Selbstschutz bezeichnen könnte. Auch innerhalb der Polizei war man sich hinsichtlich der Rolle des Trios nicht immer sicher. Es kam der ernsthafte Verdacht auf, dass die drei oder ein Teil von ihnen, auch mit Sicherheitsstellen zusammengearbeitet haben.

Überliefert sind die sogenannten Gotha-Protokolle des LKA Baden-Württemberg vom November 2011. Weil in Eisenach im Wohnwagen mit den Leichen von Böhnhardt und Mundlos auch die Dienstpistolen der 2007 in Heilbronn angegriffenen Polizisten Michèle Kiesewetter und Martin A. gefunden wurden, begaben sich Ermittler des LKA in Stuttgart nach Thüringen, um bei der Aufklärung mit zu helfen. Bei den Besprechungen in der Polizeidirektion (PD) Gotha machten die Stuttgarter ihre eigenen Notizen. Zum Trio Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe hieß es dabei zum Beispiel: „Die Zielfahndung nach dem Trio wurde 2002 eingestellt. Es wurde bekannt, dass das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) die Zielpersonen abdecke.“ – „Der PD-Leiter will alles tun, um Frau Zschäpe zu finden, bevor sie vom LfV abgezogen wird.“ – „Zumindest eine Person des Trios soll bis 2003 Mitarbeiter des Staatsschutzes gewesen sein.“ – „Das Trio oder ein Teil war nah an den Verfassungsschutz oder den Staatsschutz angebunden, hatte mit denen zu tun, was auch immer.“ Keine Verschwörungshypothesen, sondern Originalzitate des LKA Baden-Württemberg im Rahmen der NSU-Ermittlungen.

Zwei Ortsfremde, die kreuz und quer durchs Land fahren, Ausschau nach potentiellen Opfern halten und in Nürnberg gleich drei Mal fündig werden. Diese Darstellung der Bundesanwaltschaft ist aus dem Reich der Märchen – und die BAW weiß das selber. Die Nürnberger Morde wurden von Nürnberger Mördern begangen, beziehungsweise aus einem Nürnberger Umfeld heraus. Das hat der zweite NSU-Untersuchungsausschuss in Bayern sichtbar gemacht.

Er geht jetzt zu Ende. Dabei gäbe es aktuell einen weiteren Aussteiger zu befragen: André Eminger, einer der fünf Angeklagten und Verurteilten des Münchner NSU-Prozesses, der als einziger vor Gericht kein Wort sagte und überraschend die geringste Strafe erhielt. Am Tag der Urteile kam er in Freiheit.

Mit Monaten Verspätung erfuhr die Öffentlichkeit, dass sich Eminger seit Juli 2022 in einem Aussteigerprogramm des Landes Sachsen befindet. Geläutert – oder Auftrag erfüllt?

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Source overton-magazin.de

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