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Tante Sybille war eigentlich gar keine Tante, man nannte sie nur so. Aus Anstandsgründen. Sie war die Freundin meines richtigen Onkels Alfred, einem der neun Brüder meines Vaters Sepp. Alfred war Coca Cola Fahrer und hatte auch privat einen Hang zum Amerikanischen, der dazu führte, dass er in Tante Sybille seine große Liebe sah. Tante Sybille war ein Busenwunder, so sagte man damals, klein, rund und drall. Wenn Mutter von Tante Sybille sprach, dann immer voller Respekt und Hochachtung. Das hatte wohl mit ihrem freizügigen Wesen zu tun, ihrer Bereitschaft, sich als Frau herzuzeigen, einem Faible, das meine Mutter nicht frönte, war sie doch zuallererst Hausfrau, dann Mutter und zu allerletzt Frau. Das sah auch mein Vater so, glaube ich. Auch er sprach voll Hochachtung und Bewunderung von Tante Sybille. Ihr habe ich es auch zu verdanken, dass ich in früher Kindheit einen Begriff von Zuneigung entwickeln durfte, der jenseits der funktionellen Ordnung des Familienlebens einen mir bislang unbekannten Bereich des Daseins eröffnete. Tante Sybille hatte die Gepflogenheit mich, den Neunjährigen, in einer Weise zu begrüßen, die weit über das Schickliche eines Küsschens hinausging und mir in dieser Weise klarmachte, dass Gernhaben nicht an schulischen Erfolg geknüpft war, sondern ein bedingungsloses, offenherziges Bekenntnis darstellte. Tante Sybille quetsche mich dürren Knaben zur Begrüßung zwischen ihre monströsen Dopplungen, sodass mein Hals bis zu meinen aufgeregten roten abstehenden Ohren völlig verschwunden war. Bis mir die Luft ausging, steckte ich fest in dem fleischlichen Schraubstock. Mein atemlosen Auftauchen aus der Busenwunderwelt der Tante Sybille stieß allseits auf anerkennendes Gelächter, das zum Teil dem prächtigen Vermögen der Tante Sybille galt, zum Teil aber auch mir, der, wie man mutmaßte, eine erste Bewährungsprobe männlicher Verwegenheit abgeliefert hätte. Wobei das entschieden zu weit gedacht war, denn mein Beitrag zu diesem Zwangsritual war denkbar gering. Ich war bloß passives Subjekt der sybillischen Einverleibungsdemonstration. Dass ich dort zwischen ihren Brüsten eine Bildungserfahrung machte, wusste niemand. Dort, in der Abschattung alles Außen, in diesem Bazooka-Universum rosafarbener Wärme. Wäre es möglich, dass dort der Ort gefunden werden könnte, von dem in gelassenem Gleichmut die Verhältnisse der äußeren Wirklichkeit unbeschadet hinzunehmen wären? Wäre der Busen der Tante Sybille meinem Ich ein wohliges Kopfkissen, eine Bettstatt generell, von der aus man schläfrige Blicke werfen könnte auf das tobende Objekt da draußen? Wäre es möglich, dass meine Milupa-Prägung, mein frühkindliches Fluchtprogramm hier zu einem Ende gekommen war? Im doppelkugeligen Weltinnenraum des Tantensubjekts. Ich war knapp dran. Knapp dran all das aufzugeben, dem ich als Frischgeborener abgeschworen hatte.
Ich bin nämlich ein Flaschenkind, ein Milupa-Sprössling. Die Muttermilch habe ich verweigert und ich bin stolz darauf. Ich führe sehr viele meiner positiven Eigenschaften auf diese frühe kindliche Entscheidung zurück. Unabhängigkeit, analytische Kraft und Depressionsbereitschaft. Ich habe mir mit meiner Mutterbrustabwehr ein stabil verzweifeltes Verhältnis zur Welt erarbeitet. Eines, das auf die Abrundungen verzichtet, auf das Harmonische, auf das Kugelige, das Weiche, Sanfte und Tröstende. Nur wer unmittelbar nach der Abnabelung das Mutterrund mit dem spröden Charme eines Gummisaugers vertauscht, kann ein realistisches Selbstkonzept entwickeln. Eines, in dem das Ich sich selbst auf entschiedene Weise fremd bleibt. Mitleid mit all jenen Kreaturen, die dem Zwang des mütterlichen Andockmanövers erlegen sind. Die Grenzen meiner Mutter sind die Grenzen meiner Welt. Nicht mit mir.
Dass es nicht so gekommen ist, verdanke ich den zwei Herzen der Tante Sybille. Ihre Neigung zum Doppelten hatte nämlich auch darin Ausdruck gefunden, dass sie neben ihrem inneren Herzen auch ein äußeres besaß. Dieses trug sie an einem Kettchen um ihren Hals und es endete ungesehen in den Tiefen ihrer Weiblichkeit. Dass es die Form eines goldenen Herzens war, das dort baumelte, konnten nur mein Onkel Alfred und ich ausmachen, und eventuell auch andere Männer, denen sie den Zutritt zu ihren Ohos und Ohlalas offenherzig offerierte. Ich hasste diese Herz, da es, während mir Tante Sybille ihre bauschbusige Besonderheit darbot, sich zwischen mich und ihr Innerstes drängte, als ein störendes Fremdes auftrat, mich schlimm im Gesicht drückte, sodass ich über das Metall wieder zu meinem ursprünglichen Härtekonzept zurückkehrte, auch wenn es schwierig war. Das metallische Herz der Tante Sybille vereitelte meine Entwicklung zu einem selbstzufriedenen Tölpel, der zeitlebens des nächtens die Hände sichernd auf den Busen der ihm Angetrauten zu legen pflegt.
An diese liebliche Gefangenschaft erinnere ich mich gerne zurück, wenn auch mit etwas bangem Gefühl des Erstickens. Die monströsen Möpse meiner Tante Sybille waren es, die in meinen zarten Leib das Pflänzchen des Begehrens setzten, damals schon in Form einer dramatischen Ambivalenz zwischen Hingabe und Selbstverlust, jener Doppelgestalt, die das Liebesverlangen bis zu seinem Erlöschen in bösartiger Weise zum Problem werden lässt. Ich wage mir kaum vorzustellen, welche Behandlung sie meinem Coca Cola Onkel angedeihen ließ, war sie doch mir gegenüber, einem kaum als männlich zu bezeichnendem Etwas, so großzügig. Die familiären Besuche bei Tante Sybille waren auch sonst geprägt von einer Atmosphäre, die in unserer Dreizimmerwohnung im Vorstadtblock nicht aufzufinden war. Man pflegte das Kartenspiel und nippte aus Rotweingläsern, sprach über die Lust am Leben und über Fernsehsendungen. An einem Nachmittag war die Rede auf die „Wünsch dir was“, eine TV-Spieleshow, die von Vivi Bach und Dietmar Schönherr moderiert wurde, gekommen. Das wäre nicht weiter von Bedeutung gewesen, hätte nicht in der Novembershow des Jahres 1970 die 17 jährige Kandidatin Leonie Stör nicht nur auf einen BH verzichtet, sondern auch noch dazu ihrer Nacktheit durch eine transparente Bluse schimmern lassen. Das hatte damals für einen riesigen Wirbel gesorgt und war auch Gesprächsthema bei Tante Sybille. Die sich in libertiner Weise für die Befreiung der weiblichen Brüste generell aussprach und auch der Nacktheit im Fernsehen nicht ablehnend gegenüberstand, während meine Mutter sie zur Ordnung rief, wären doch Kinder anwesend. Sie selber, so beschloss Tante Sybille ihren Exkurs, trüge auch nie BHs und hätte damit beachtlichen Erfolg bei den Männern erzielt. Wie immer man zur BH-Frage stehen mag, mir wurde damals klar, dass vom weiblichen Busen eine magische Kraft ausging, die ein kompliziertes Regelwerk in Gang setzte, das um dessen Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit kreiste. Darüber hinaus Diskurse auslöste um die ideale Form, Größe und Beschaffenheit. Mir war bislang kein Objekt untergekommen, über das man in derart ausführlicher Form Gespräche führte, selbst meine Eltern gebrauchten Nebensatzkonstruktionen, eine Angewohnheit, die zu Hause nicht üblich war, genügte dort doch die geradlinige Form des Imperativs.
Meine erste Freundin hieß auch Sybille, unsere Beziehung dauerte 10 Sekunden. So lange brauchte sie, um mit ihrer Zunge mein angstvoll zusammengepresstes Kiefer zu entzweien und ihr Sprechwerkzeug in meinem Mund zappeln zu lassen wie eine gestrandete Forelle. So trocken war meine Mundhöhle. Ich war 16 Jahre und war ihrem Wunsch gemäß mit der Straßenbahn zu ihrem Wohnblock gefahren. Sybille hatte ich am Pichlingersee kennengelernt, im Sommer des Jahres 1982. Sie trug einen violetten Bikini. Busen hatte sie keinen, soweit ich mich erinnern kann, zumindest nicht das, was man darunter versteht, wenn man von Tante Sybille großgezogen wurde. Mir genügte die Namensverwandtschaft, um ein interessiertes Wohlgefallen an ihr in mir zu bemerken, das aber zu äußeren mir die entsprechende Semantik fehlte. Ich hatte keinen Tau, wie dieses Gefühl am Objekt zu operationalisieren wäre. In dieser Weise zur blöd glotzenden Passivität verdammt, sah ich schon meine Felle davonschwimmen, was Sybille betraf, tat es diesen gleich und sprang ein letztes Mal ins Wasser. Sybille musste meine entflammte Zuneigung irgendwie bemerkt haben, wie sonst ist es erklärlich, dass sie mir nachsprang, mir den Kopf unter Wasser drückte und ich mich ähnlich fühlte wie damals zwischen den Brüsten von Tante Sybille. Und wieder stieß mein atemloses Auftauchen auf allgemeines Gelächter, wieder hatte ich eine Bewährungsprobe männlicher Verwegenheit abgeliefert, nur diesmal war ich auch selbst überzeugt davon. Ich war mir sicher, dass der tätliche Angriff Sybilles auf meine Person nichts anderes war als ein inniges Liebesbekenntnis, und damit nichts anderes als eine direkte Aufforderung zum Geschlechtsverkehr, das spürte ich, obwohl ich nicht ganz genau wusste, was das eigentlich wäre. Aber eines war klar, Sybille war die Richtige für mich, das Mädchen, bei dem mir die Luft wegblieb. Wir verabredeten uns für nächsten Sonntag um fünfzehn Uhr bei der Straßenbahnhaltestelle. Ich hatte fünf Tage Zeit um mich auf meinen ersten Geschlechtsverkehr vorzubereiten, es war der 8. August. Genau an diesem Tage hatte der Taifun „Nina“ in Zentralchina die Wasser des Flusses „Ru“ soweit ansteigen lassen, dass der weit flussaufwärts liegende Shimantan-Damm in Stücke zerbrach, woraufhin sich eine gigantische Flutwelle stromabwärts ergoss, der die 62 weiteren Dämme nichts entgegensetzen konnten, was zur Folge hatte, dass 26.000 Menschen ums Leben kamen, während ich an Geschlechtsverkehr mit Sybille dachte. Hätte ich damals schon gewusst, dass das Weibliche in der Lage wäre, Folgen zu zeitigen von so unermesslichem Elend, wäre ich nie in die Straßenbahn gestiegen. Wäre auch nie ins Wasser gesprungen und hätte so Sybille zur unvermeidlichen Liebesattacke gezwungen. So aber kam zu diesen 26.000 Opfern im fernen China noch eines dazu, hier, in der Heimat, am Sonntag den 5. August, dahingerafft vom Wirbelsturm Sybille. Ich hatte meine besten Jeans angezogen und ein T-Shirt, in das ich vorne einen Knopf gebunden hatte, womit es hochrutschte und meinen Bauchnabel sehen ließ. Das erste bauchfrei Top der Welt. Ich glaube, dass ich diese erfunden habe, am 5. August 1982, am Tag des Wirbelsturms, lange Zeit also, bevor sie aktuell wurden. Auf jeden Fall war ich der Überzeugung, dass ich so, cool und lässig, männlich und freizügig, der Begegnung mit Sybille standhalten konnte. In meinem Geschlechtsverkehr-Outfit. Halb nackt sozusagen und bereit für alles. Dünn wie ein Strohhalm, durch den man kaum Luft bekommt. Gezeichnet von der Härte des Lebens, von dem Verzicht auf die nahrhafte Mutterbrust, der erschöpfenden Anstrengung des Indianerspielens, des Floßbauens in den Traunauen, den Angriffen auf die Nachbarsbande. Ich war durch alle Widerlichkeiten des Lebens gegangen, war von ihnen gezeichnet. Aber das war jetzt vorbei, jetzt gab es die volle Dröhnung, die tanzenden Puppen, die wippenden Brüste der Mädchen, die schweißtreibende Arbeit am anderen Geschlecht. Ich wusste, heute war der Tag, an dem ich zum Manne reifen würde. Eingedenk dessen und der Tatsache, dass ich mit meinem Indianerauge schon Sybille ausmachte, die als hellblaue Brise in der Ferne auftauchte, rasch an Fahrt aufnahm und Sekunde für Sekunde anwuchs, spuckte ich, kurz bevor sie bei mir war, meinen Bazooka-Kaugummi in einem weiten Bogen aus, dessen Aufschlag aber ich gar nicht mehr wahrnehmen konnte, denn in dem Sekundenbruchteil seiner Talfahrt hatte mich Sybille schon in ein Kellerabteil gezerrt, mir ihre Lippen angesetzt und das Projektil ihrer Zunge in mich versenkt. Und getroffen. Draußen fiel ein unfertig gekauter Bazooka-Kaugummi einsam zu Boden. Im Kellerabteil Nr. 8 kaute ich die rosa Zunge der wilden Sybille. Das Gemetzel dauerte zehn Sekunden. Das ist höchstwahrscheinlich auch jene Zeitspanne, die die Chinesen unter dem Shimantan-Damm brauchten, bis sie bemerkten, dass es jetzt aus war, mit dem Lebendigsein. Dass jetzt die ewige Finsternis daherkommt, als turmhohe Sturzflut. Ich wäre lieber ein Chinese gewesen, damals im Keller, als ich selber. Sybille hatte mit ihrer spitzen Zunge heftig in mir umgerührt, sämtliche Parameter meiner bisherigen Existenz zu Brei geschlagen, sie heißgekochet, bis sie verdampften. Ich war enttäuscht vom Geschlechtsverkehr. Nicht einmal Tante Sybille hatte das mit der Zunge erwähnt, meine Mutter wusste das wahrscheinlich selber nicht und die Fernsehserien, die ich damals sah, zeigten eine ganz andere Technik. Man presste. Das hatte ich mit Sybille vor. Das war die Technik, die ich draufgehabt hätte, die ich in den 5 Tagen geübt hatte. Aber die Zunge? In den Filmen war das eine saubere, trockene Sache. Hätte ich in einem Film je das gesehen, was Sybille mit mir gemacht hatte, hätte ich das mit dem Geschlechtsverkehr sowieso sein lassen. Dieses Gesabbere. Dieses Herumrühren in meinem Innenleben, dieses Einspeicheln meines Kernsubjekts. Nicht mit mir.
Listenleben 15/05/2011 In "Die Literarischen Nahversorger"
Klein a 04/01/2012 In "Britt Schulz und andere (Erzählungen)"
Fallgeschichte 15/05/2011 In "Die Literarischen Nahversorger"
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