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Es ist ein verdrängtes Kapitel jüdischer Geschichte: Von 1860 bis 1930 wurden Tausende junger Jüdinnen, die Armut und Antisemitismus entkommen wollten, mit falschen Versprechungen nach Südamerika gelockt. Dort wurden sie zur Prostitution gezwungen - nicht selten von jüdischen Zuhältern.







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Jüdische Prostitution in Südamerika: Leidensweg der "weißen Sklavinnen"


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Jüdische Prostitution in Südamerika: Leidensweg der "weißen Sklavinnen"
Sophia Chamys ist noch ein Kind, als sie von ihrem späteren Zuhälter entdeckt wird. Die 13-Jährige, die in einem Dorf bei Warschau aufgewachsen ist, begleitet ihre Familie gerade in die Stadt, wo ihr Vater nach Arbeit sucht - doch sie ist es, die unverhofft ein Stellenangebot erhält. Als Isaak Boorosky stellt der gutgekleidete Mann sich vor, der sie mitten auf der Straße anspricht, vorgeblich, weil er ein Hausmädchen für seine Mutter in Lodz sucht.
Der Familie schlägt Boorosky vor, sechs Monatslöhne - acht Rubel - im Voraus zu zahlen. Ein Angebot, das die arme jüdische Familie nicht ausschlagen kann. Er nimmt das Mädchen sofort mit - und zerstört ihre Illusionen schnell: In Lodz vergewaltigt Boorosky die 13-Jährige, zwingt sie, anschaffen zu gehen, und übergibt sie schließlich Geschäftspartnern, die mit Sophia Chamys und anderen Mädchen ein Schiff Richtung Lateinamerika besteigen. Dort boomt der Handel mit jungen, hellhäutigen Prostituierten.
Der Handel mit jüdischen Mädchen ist über Jahrzehnte ein lukratives Geschäft. Von 1860 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs schleusen jüdische Zuhälter Tausende Frauen, meist minderjährig und arm wie Sophia Chamys, nach Lateinamerika. Der Kontinent wird damals von Einwanderern aus Europa und anderen Ländern überschwemmt, die ohne Frauen in die Neue Welt aufgebrochen sind. Vor allem in Hafenmetropolen wie Buenos Aires und Rio de Janeiro floriert das Rotlichtmilieu, und die Freier zahlen höhere Preise für Frauen mit heller Haut als für einheimische und schwarze Prostituierte.
"Jüdinnen aus Osteuropa versprechen die aufregendsten Perversionen - was führte sie dazu, so zu enden, sich für den Gegenwert von drei Francs zu verkaufen?", schreibt der Schriftsteller Stefan Zweig nach einem Besuch des Rotlichtviertels in Rio de Janeiro 1936 verwundert in sein Tagebuch. "Einige Frauen sind wirklich schön - über allen liegt eine diskrete Melancholie - und deshalb erscheint ihre Erniedrigung, das Ausstellen in einem Schaufenster, nicht einmal vulgär, berührt mehr, als dass es erregt."
Die aus Osteuropa und Russland importierten Jüdinnen, die in Argentinien "Esclavas blancas", weiße Sklavinnen, und in Brasilien "Polacas", Polinnen, genannt werden, sind begehrt. Der 1906 gegründete jüdische Zuhälterring Zwi Migdal, der in Argentinien und Brasilien große Teile des Rotlichtmilieus kontrolliert, soll Ende der zwanziger Jahre etwa 30.000 Frauen weltweit kontrollieren. Allein in Argentinien betreiben 400 Zwi-Migdal-Zuhälter etwa 2000 Bordelle mit 4000 Frauen. Das Hauptquartier in Buenos Aires ist sogar mit einer Synagoge ausgestattet, in der die Männer Jüdinnen heiraten und so an sich binden.
Um für Nachschub zu sorgen, sind die Zuhälter nicht nur, wie bei Sophia Chamys, als Arbeitsvermittler getarnt, sondern auch als Heiratsvermittler oder als Bräutigame. Sie präsentieren sich bei ihren Reisen als Gentlemen, als Landsleute und Glaubensbrüder, treten gutgekleidet und weltgewandt auf und profitieren von den Nöten und Existenzängsten in den jüdischen Städten Osteuropas und Russlands, aus denen sie oft selbst stammen. Dort herrschen Armut, Arbeitslosigkeit und Angst vor wachsendem Antisemitismus.
Dem Versprechen einer besseren Zukunft - "Amerika!" - möchten viele Mädchen glauben, doch unter den Frauen, die nach Lateinamerika gehen, gibt es auch viele, die wissen oder ahnen, auf was sie sich einlassen. Einige mussten sich schon in ihrer Heimat prostituieren und auf bessere Verdienstaussichten hoffen. "Landarbeit und Industriearbeit ist ihnen versagt, höhere Berufe verschlossen", beschreibt Bertha Pappenheim 1908 die Misere osteuropäischer Juden, "aber in den Hotels, in den Bordellen, Bädern, Varietés, da duldet man die jüdischen Mädchen als Prostituierte, und die jüdischen Mädchenhändler duldet man, wo ein ehrlicher und anständiger Jude mit seiner Familie niemals geduldet würde."
Bei den Schiffspassagen nach Lateinamerika treffen Frauen aufeinander, die alle dem gleichen Mann versprochen sind oder in Blitzhochzeiten verheiratet worden waren. Für manche beginnt das Martyrium noch vor oder während der Überfahrt - sie werden vergewaltigt, geschlagen, eingesperrt. In den südamerikanischen Häfen holen Helfer die Frauen ab - und entreißen ihnen die Pässe. Sophia Chamys geht in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires von Bord, einem Hauptumschlagplatz für den Frauenhandel in Lateinamerika. Jüdische Prostituierte arbeiten hier in den Bordellen in der "Calle Junin" im Jüdischen Viertel, deren "gepeinigte Seelen" Horacio Pettorossi 1931 im Tango "Esclavas Blancas" besingt.

Chamys, die von ihrem Zuhälter Boorosky schwanger ist, wird in ein "Conventillo", ein Lehrbordell im heruntergekommenen Hafenviertel La Boca gebracht und von erfahreneren Prostituierten angelernt. 1896 gibt die 20-Jährige ihr zerstörtes Leben auf einer Polizeistation in Rio zu Protokoll, zeigt Boorosky an, dünn und mit blauen Flecken im Gesicht.
Es entstehen jüdische Hilfsvereine, wie die in London ansässige Jewish Association for the Protection of Girls and Women (JAPGW), die auf das Problem aufmerksam machen wollen. Doch die jüdischen Gemeinden in Lateinamerika behandeln die Prostituierten wie Aussätzige, empfinden sie als Schandflecken für die jüdische Immigration - und die jüdischen Zuhälter als rufschädigende Gefahr.
Doch die Frauen erkämpfen sich Rechte. Da ihnen von den jüdischen Gemeinden Anerkennung, Hilfe, der Besuch von Synagogen, selbst eine Bestattung nach jüdischem Ritual verwehrt wird, gründen sie ihre eigenen Institutionen. In Buenos Aires, Rio de Janeiro und São Paulo kaufen sie sich Grabstätten. Die Gräber der Prostituierten sind allerdings durch eine Mauer von den Ruhestätten der "unbescholtenen" Juden getrennt.
1930 werden die Mitglieder von Zwi Migdal in einem spektakulären Prozess angeklagt. Die Prostituierte Raquel Liberman, die mit einem Zuhälter verheiratet ist, hat das Netzwerk anzeigt, bei einem der wenigen unbestechlichen Polizeibeamten in Buenos Aires. Nur wenige müssen tatsächlich Gefängnisstrafen absitzen, einige werden des Landes verwiesen. Doch die Ära der jüdischen Zuhälter ist vorbei, mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs endet die Hochzeit des jüdischen Mädchenhandels.
Nur wenige Fragmente wie Briefe oder Polizeiprotokolle berichten von den Frauen. Etwa das Polizeiprotokoll über Sophia Chamys, das ihr Zeitgenosse, der brasilianische Journalist Francisco Ferreira da Rosa in seinem Buch über Prostitution überliefert hat.
"Einige Studenten, Wissenschaftler und Journalisten haben sich für das Thema interessiert, aber in Brasilien und Argentinien möchte die jüdische Gemeinde die Geschichte vergessen", sagt Dr. Rochelle G. Saidel vom "Remember the Women Institute" in New York. "Es ist wie die sexuelle Gewalt während des Holocausts eine Schande, die viele unter den Teppich kehren wollen." Das Institut erforscht die Geschichte der Frauen und arbeitet an einer Ausstellung, die auch modernen Frauenhandel thematisieren soll. "Ich kenne kein einziges Museum in Lateinamerika, das sich mit dieser Geschichte beschäftigt", sagt Saidel.
Nur Einzelinitiativen bringen die Frauen zurück in die Öffentlichkeit. Die Historikerin Paula Janovitch hat vor einigen Jahren die Namen von Frauen recherchiert, die auf dem Prostituierten-Friedhof in São Paulo begraben lagen - der 1970 einem öffentlichen Friedhof weichen musste. Die Leichen sollten damals auf einen Friedhof der jüdischen Gemeinde umgebettet werden. "Die Mitglieder der jüdischen Gemeinde wollten das erst nicht, dann haben sie eingelenkt, weil die Frauen sonst irgendwo in der Stadt, ohne jüdische Zeremonie begraben worden wären", sagt Janovitch. "Sie haben die Körper also umbestattet, aber die Namen auf den Grabsteinen zerstört, so dass 30 Jahre lang 250 namenslose Körper dort lagen." Nach Janovitchs Recherche wurden die Grabinschriften wiederhergestellt.
Inzwischen sind einzelne Filme, Bücher, auch Theaterstücke über die jüdischen Prostituierten entstanden, doch die Zahl der Arbeiten bleibt überschaubar. In Deutschland hat die Kuratorin und Autorin Irene Stratenwerth 2012 die Ausstellung "Der gelbe Schein" im Berliner Centrum Judaicum und im Deutschen Auswandererhaus in Bremerhaven realisiert und ein gleichnamiges Buch zur Ausstellung veröffentlicht.
Die Spur von Sophia Chamys verliert sich. Sie soll jung gestorben sein. Vielleicht wurde sie auf der kleinen Grabstätte mit den 792 Gräbern am Rand des riesigen Friedhofs von Inhaúma in der ärmlichen Nordzone von Rio de Janeiro bestattet. "Seit 40 Jahren wird der jüdische Friedhof hier nicht mehr benutzt, er ist mehr wie ein Museum", sagt der Friedhofswärter, der direkt nebenan wohnt. "Aber es kommt nur selten jemand vorbei."
Der Friedhof liegt inmitten der Favela Rato Molhado, "Nasse Ratte", die von Drogenbanden beherrscht wird. Auf den Bergen dahinter stapeln sich die Ziegelhäuschen der Favela-Siedlungen des Complexo do Alemão. Ein paar Meter vom Friedhofseingang entfernt, einem schweren Eisentor mit Davidstern, stehen die Drogendealer der Favela mit Maschinengewehren. Kaum ein Ort eignet sich besser dafür, die Spuren zu verbergen, die viele lieber vergessen würden.

Irene Stratenwerth: "Der Gelbe Schein: Mädchenhandel 1860 bis 1930". Deutsches Auswandererhaus, Bremerhaven 2012. Das Buch erhalten Sie bei
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Mädchen in Not: Um die Jahrhundertwende warnte das Deutsche Nationalkomitee zur internationalen Bekämpfung des Mädchenhandels mit solchen Plakaten. Es wird empfohlen, sich im neuen Land direkt nach der Ankunft beim Auswandererbüro oder der Bahnhofsmission zu melden.

Geschäft mit heller Haut: Freier begutachten ein Mädchen in einem Zwi-Migdal-Freudenhaus, vor ihr steht der Kuppler. Die nach ihrem Gründer benannte Zuhälterorganisation betrieb mit jüdischen Frauen aus Europa rund 2000 Bordelle vorwiegend in Buenos Aires, aber auch in Rio de Janeiro, São Paulo und Montevideo.

Mafia-Synagoge: In Buenos Aires unterhielt der Zuhälterring Zwi Migdal sogar eine eigene Synagoge. Hier heirateten die Zuhälter die "Esclavas blancas", die weißen Sklavinnen, um sie an sich zu binden.

Mutige Zeugin: Die jüdische Russin Raquel Liberman kam 1922 mit ihren beiden Söhnen in Argentinien an. In Buneos Aires versuchte sie nach dem Tod ihres Mannes Arbeit zu finden - und landete in den Fängen eines Zuhälters. 1930 sagte sie gegen die Mitglieder der Zwi-Migdal-Bande aus und trug damit wesentlich zur Zerschlagung der Organisation bei.

Umschlagplatz für den Mädchenhandel: Bis zu 4000 Frauen, viele davon Jüdinnen, sollen um 1900 in Buenos Aires als Prostituierte gearbeitet haben. Etliche Mädchen aus Europa wurden in dem Rotlichtviertel La Boca am Hafen (Foto von 1936) zur Prostitution gezwungen.

Weiße Sklavin: Mit Geld lockten Kuppler häufig minderjährige Jüdinnen aus ärmlichen Verhältnissen nach Südamerika. Sie versprachen ihnen ein besseres Leben in der Fremde. Doch kaum in Amerika angekommen, platzte der Traum. Nachdem sie das Schiff verlassen hatten, wurden vielen Mädchen die Pässe abgenommen. Dann wurden sie in Bordelle geschickt und zur Prostitution gezwungen.

Vergessene Ruhestätte: An den Friedhof der jüdischen Prostituierten grenzt eine Favela, die von Drogengangs beherrscht wird. Im Hintergrund sind die Berge und Ziegelhäuser der Favela-Siedlungen des Complexo do Alemão zu erkennen.

Blondinen bevorzugt: 1931 lief in österreichischen Kinos das Drama "Gier nach Blond - Tänzerinnen für Südamerika gesucht" von Jaap Speyer. Der Film thematisiert den Handel mit Frauen, die per Zeitungsinserat von Europa nach Amerika gelockt und dort gezwungen werden, als Nackttänzerinnen aufzutreten.

Ankunft in Amerika: Zehntausende Frauen führte die Hoffnung auf ein besseres Leben in der Neuen Welt in die Prostitution.

Auswandererfrauen verlassen 1908 einen transatlantischen Dampfer.

Aufarbeitung der Vergangenheit: In dem Buch "Maskentanz: Jüdische Frauen und Prostitution" (1996) erinnerte die Brasilianerin Beatritz Kushnir an das Schicksal der "Polacas" - und brach damit ein "absolutes Tabu" in ihrer Heimat, so die Autorin.

Täter und Opfer: Die Stiftung Neue Synagoge Berlin und das Deutsche Auswandererhaus Bremerhaven nahmen sich 2012 mit der Ausstellung "Der Gelbe Schein" im Centrum Judaicum in Berlin dem dunklen Kapitel der europäischen Auswanderungsgeschichte an.

Das zweite Porträt von links zeigt die 19-jährige Jüdin Paula Waismann. Sie wurde 1925 in einem Danziger Gasthaus festgenommen, wo sie mit ihrem Mädchenhändler saß. Die beiden waren auf dem Weg nach Mexiko.
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