Israels „Rache“

Israels „Rache“

Tierarzt Dirk Schrader

Brief aus Jerusalem von Helga Baumgarten, Jerusalem 

Um 3.30 Uhr morgens am 21. Oktober vergangenen Jahres: Omar Assafs Frau weckt ihren Mann auf: „Die Armee ist vor unserem Haus vorgefahren. Zieh dich an !“ Für Assaf nichts Neues. Als linker Aktivist, langjähriger Gewerkschafter an der Universität Birzeit und gewähltes Mitglied im Gemeinderat von Ramallah ist er Verhaftungen gewohnt. Er war mindestens schon zehnmal in israelischer Haft. 

Doch am 23.Oktober ist es anders als sonst. Früher klingelte die Armee, und er öffnete die Tür. Dieses Mal sprengte das Armeekommando die Haustür. Sie fesselten ihn, verbanden ihm die Augen und brachten ihn zu einem der wartenden Jeeps: Dort wurde er regelrecht hineingeworfen. Andere Verhaftete lagen schon auf dem Boden. Auch Assafs Sohn wurde aus der darüberlegenden Wohnung geholt, zusammengeschlagen und auf die Straße gebracht. Gefesselt musste er dort knien. Frauen und Kinder wurden in ein Schlafzimmer gesteckt und von alldem isoliert. 

Das Armeekommando brachte Assaf zusammen mit den anderen Gefangenen nach Etzion südlich von Hebron, wo er einige Tage unter unsäglichen Bedingungen festgehalten wurde. Dann kam er in das Gefängnis Ofer nordwestlich von Jerusalem, direkt außerhalb des Dorfes Beitunia. Nach zehn Tagen – er hatte eigentlich wie schon früher Administrativhaft erwartet – führte man ihn dem Richter vor. Die Anklage warf ihn erst einmal um: Er sei ein wichtiger Hamas-Führer. Er, ein säkularer linker Aktivist! Der Richter hatte die Anklage auf der Basis von nicht offengelegten Dokumenten angenommen.

Nach einem Monat wurde er erneut dem Richter vorgeführt. Die Anklage habe sich als falsch erwiesen. Assaf atmete auf: Nun würde er endlich entlassen. Aber er hatte nicht mit dem gerechnet, was dann kam: Er sei zwar kein Hamasführer, aber - Omar Assaf ist 74 Jahre alt – Führer der palästinensischen „Hirak Al-Schabani“, übersetzt der „Jugendrevolte“. Diese war 2011 gegründet worden, inspiriert von den Revolutionen in mehreren arabischen Ländern. 

Im Gefängnis Ofer wurde er zusammen mit zehn weiteren Gefangenen in eine Zelle gesteckt, in der es sechs Betten gab. Zuvor musste er sich bis auf die Unterhose ausziehen und seine Kleidung abgeben. Dafür erhielt er eine Hose und ein T-Shirt. Zwei Monate konnte er sie nicht wechseln. Zwar gab es alle drei bis vier Tage die Möglichkeit, zu duschen. Mit einem Minimum an Seife für eine kalte Dusche in den Wintermonaten des palästinensischen Berglandes. Zum Abtrocknen ein halbes Handtuch. Danach blieb ihm nichts anderes übrig, als wieder in die alte Kleidung zu schlüpfen. 

In die Zelle gelangte kein Sonnenstrahl. Auch der Sauerstoff wurde immer wieder knapp, weil zu viele Menschen auf zu kleinem Raum zusammengepfercht waren. Im Unterschied zu früher befanden sich Gefangene aller Organisationen von Hamas bis zu der linken Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) in einer Zelle – egal wie alt und egal woher. Ausgang aus der Zelle gab es nicht täglich. Und wenn, dann maximal zehn Minuten Rundgang im Gefängnishof. 

Die Haftbedingungen sind durch Polizeiminister Itamar Ben-Gvir enorm verschärft worden: Gefangene haben keinen Zugang zu Radio und Fernsehen. Familienbesuche sind verboten. Von der Außenwelt sind die Gefangenen systematisch abgeriegelt. Dafür mussten sie den Horror aus der nebenan gelegenen Abteilung mithören, der Abteilung 23 für Palästinenser aus Gaza. Sie waren mit Ketten gefesselt, rund um die Uhr. Die Matratzen zum Schlafen wurden ihnen um fünf Uhr morgens weggenommen und erst abends um sieben Uhr wieder zurückgegeben. Omar hörte, wie sie immer wieder zusammengeschlagen wurden, sich auf den Boden werfen und oft bellen mussten wie Hunde. Auch der Arzt Adnan Al Barsch, Direktor der orthopädischen Abteilung am Schifa-Krankenhaus in Gaza, war unter den Inhaftierten. Er war während der Behandlung von Patienten festgenommen und in das Gefängnis gebracht worden. Am 19. April starb Barsch infolge von Folter. 

Im Vergleich dazu hatte Assaf Glück. Sein Rechtsanwalt durfte ihn besuchen und konnte seine Freilassung durchsetzen. Aber er musste zuvor Unsägliches durchmachen. Als er einmal zusammengeschlagen wurde, erlitt er eine Kopfverletzung. Ein Arzt kümmerte sich zwar um ihn, doch die klaffende Wunde wurde nicht korrekt behandelt. Innerhalb von kurzer Zeit entzündete sie sich. Immerhin konnte Assaf sich beim zuständigen Richter beschweren: Nach knapp sechs Monaten Haft in Ofer hatte er 29 Kilogramm abgenommen. Ein Bild von ihm direkt nach der Freilassung erschüttert. 

Inzwischen gibt es Zahlen, wonach in israelischen Gefängnissen im besetzten Westjordanland seit Oktober mindestens 19 Menschen gestorben sind. Im Vergleich zum Foltergefängnis Sde Teiman, dem israelischen Guantanamo, ist das fast noch harmlos. Dort wurden seitdem 35 Menschen regelrecht ermordet. Die Zahl bestätigt ein UN-Bericht Ende Juli. „In Sde Teiman wurden die Gefangenen in einer Art Käfig festgehalten, über längere Zeit nur mit Windeln bekleidet.“ Volker Türk, UN-Kommissar für Menschenrechte, zeigte sich bei der Vorstellung des Berichts erschüttert: „Die Zeugenaussagen, die mein Büro gesammelt hat, weisen auf entsetzliche Taten hin wie Waterboarding und das Hetzen von Hunden auf die Gefangenen. Das stellt eine eklatante Verletzung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts dar.“ 

Inzwischen hat ein israelischer Arzt auf ein extremes Beispiel von Vergewaltigung durch Soldaten in Sde Teiman hingewiesen, bei dem der sexuell Gefolterte fast starb. Obwohl neun Soldaten festgenommen wurden, geht das Foltern ungemindert weiter – unterstützt von großen Teilen der israelischen Gesellschaft. 

Helga Baumgarten ist emeritierte Professorin für Politikwissenschaften an der Universität Birzeit nördlich von Jerusalem im Westjordanland und Autorin mehrerer Standardwerke zum Nahostkonflikt. Dies ist ihr sechster Beitrag in der Reihe „Briefe aus Jerusalem“.

 

Report Page