Hohe Nervosität vor der Gegenoffensive

Hohe Nervosität vor der Gegenoffensive

Nico Lange

Die Ukraine bereitet weiter eine Gegenoffensive vor. Russland greift zwar in Bachmut, südlich von Awdijiwka und in Marjinka weiter an, stellt sich aber insgesamt strategisch auf Verteidigung ein. Wie ist die Lage und was wird gebraucht?

Russland greift in Bachmut weiter an und kontrolliert derzeit knapp 90 Prozent des Stadtgebiets. Die Kämpfe in urbanem Gelände sind für Russland sehr langwierig und verlustreich. Dennoch strebt Russland jetzt die vollständige Eroberung Bachmuts bis zum wichtigen russischen Feiertag am 9. Mai an.

Während eine vollständig Eroberung von Bachmut propagandistisch für Russland einen gewissen Wert hätte, wäre das militärisch und strategisch kaum relevant.

Südlich von Awdijiwka setzt Russland die Angriffe fort, erreicht aber keine Fortschritte. Gleiches gilt für Russlands Angriffe in der mittlerweile vollständig zerstörten Kleinstadt Marjinka westlich von Donezk.

Auch wenn Russland sich mit lokalen Angriffen weiter um die Kontrolle kleinerer Städte bemüht, scheinen die offensiven Fähigkeiten Russlands insgesamt erschöpft. 

Russland stellt sich strategisch auf Verteidigung ein. Dazu errichteten die russischen Truppen Minenfelder, Panzersperren, Gräben und Befestigungen. Diese sind jedoch von unterschiedlicher Qualität und können zerstört, durchbrochen oder umgangen werden.

Wenige Tage vor dem in Russland symbolisch wichtigen "Tag des Sieges" am 9. Mai lässt sich zusammenfassend Surovikins Plan der winterlichen Luftangriffe auf ukrainische Infrastrukturen militärisch ebenso als gescheitert ansehen wie Gerassimows Plan der Sturmversuche bei Bachmut, Awdijiwka und Wuhledar. 

Russland verbrauchte in den vergangenen Monaten enorme materielle und personelle Ressourcen ohne nennenswerte militärische Ergebnisse. Die Ukraine hielt die Frontlinie, erhielt ihre zivile Lebensfähigkeit und exportiert seit Anfang April 2023 sogar bereits wieder Strom.

Neue russische Luftangriffe richten sich jetzt gegen Nachschub und möglicherweise Truppenkonzentrationen der Ukraine, um die erwartete Gegenoffensive zu behindern. Russische Angriffswellen erfolgen jedoch in größeren zeitlichen Abständen voneinander und mit weniger Raketen als noch im Herbst.

Gleichzeitig setzt Russland auf offenen Terror gegen die Zivilbevölkerung in ukrainischen Städten, um die ukrainische Luftverteidigung zum Einsatz und zum Verbrauch von Munition zu zwingen, die Ukrainer psychisch zu zermürben und Bilder eigener Aktivität für das heimische Publikum zu erzeugen.

Die Ukraine braucht schnellere und umfangreichere Hilfe bei der Luftverteidigung. Zwar kündigen Partner geplante Lieferungen von Systemen meist wiederholt an und kommunizieren nach Lieferung oft mehrfach über dieselben Systeme, lieferten aber bisher noch zu wenig Flugabwehrsysteme mit zu wenig Munition. 

Eine Erhöhung der Produktionskapazitäten für Luftverteidigungssysteme und Lenkflugkörper für diese Systeme ist weiter dringend nötig. Das wurde leider nicht rechtzeitig und nicht entschieden genug ausgelöst.

Die Ukraine braucht zusätzlich mehr Systeme, um sich vor allem in den Städten in Frontnähe gegen billige Drohnen, umfunktionierte S-300-Raketen und Gleitbomben verteidigen zu können.

Artilleriesysteme und Artilleriemunition bleiben einer der entscheidendsten materiellen Faktoren für den Ausgang dieses Krieges. Massive finanzielle Garantien für massive schnelle Ausweitung der Industriekapazitäten besonders in Europa sind notwendig. 

Es ist insgesamt blamabel, dass die führenden Industriestaaten Europas bisher nicht dazu in der Lage scheinen, Produktionskapazitäten rasch und massiv hochzufahren, um einen zuverlässigen Strom systematischen Nachschubs für die Ukraine zu erzeugen. 

Die Einrichtung von Zentren für Instandsetzung und logistische Unterstützung der Waffensysteme an den Grenzen der Ukraine ist ein wichtiger Fortschritt. Es muss weiter darüber nachgedacht werden, durch Ausbildung und weiteren Ausbau von Infrastrukturen Teile der Instandsetzung in der Ukraine näher an die Frontlinien zu ermöglichen.

Gebraucht werden weiterhin viele kommerzielle Drohnen, vor allem mit Nachtsichtfähigkeiten, Ausrüstung zum Räumen und Sprengen von Minen, mobile Brücken zum Überwinden kleinerer Gewässer und Funkgeräte.

In Vorbereitung der Gegenoffensive führt die Ukraine Schläge gegen Logistik, Führungs- und Kommunikationseinrichtungen Russlands durch. Waffen und Munition mit höheren Reichweiten sind dafür notwendig, da Russland sich auf die aktuell für die Ukraine möglichen Reichweiten eingestellt hat.

Die Ukraine wird detaillierte militärische Planungen und zeitliche Abläufe der Gegenoffensive mit niemandem teilen. Die nächsten Tage und Wochen werden weiterhin von Spekulationen, Täuschungsmanövern, Falschmeldungen und extrem hoher Nervosität geprägt sein.

Anhaltende Berichte über einen angeblichen Brückenkopf der Ukraine am linken Ufer des Dnipro bei Cherson illustrieren die nervöse Lage. Durch das Auswerten russischer Meldungen über die Sichtung ukrainischer Truppen bei Aufklärungsoperationen oder Abtastangriffen können solche Meldungen entstehen.

Beginnend mit gezielten Schlägen zur Vorbereitung und Abtastangriffen entlang des gesamten Frontverlaufs ist es wahrscheinlich, dass die Ukraine an mehreren Frontabschnitten größere Gegenangriffe beginnen wird, so dass erst später verständlich werden wird, wo genau die Hauptanstrengung liegt.

Die kommenden Gegenangriffe werden weder eine "Frühjahrs-"offensive noch die "letzte Chance" der Ukraine sein. Gegenoffensiven können Monate dauern, zeitlich gestaffelt erfolgen und weitere notwendige Angriffs- und Verteidigungsoperationen nach sich ziehen.

Der Kriegsverlauf zeigt: Eine militärische Abwehr des russischen Angriffs gegen die Ukraine ist möglich. Dass dabei vielfach befürchtete extreme Eskalationen ausbleiben, wurde durch die letzten 15 Monate und in diesem Sinne folgenlose Angriffe auf die Krim und auf militärische Einrichtungen in Russland deutlich.

Der aussichtsreichste Weg zu Verhandlungen und Frieden bleibt die massive, langfristige und industriell gestützte Militärhilfe für die Ukraine bei gleichzeitigen diplomatischen Anstrengungen für einen Rückzug der russischen Truppen und Sicherheitsgarantien für die Ukraine.

Karte: @War_Mapper

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