Hart erarbeitete Fortschritte an der Südfront

Hart erarbeitete Fortschritte an der Südfront

Nico Lange

Die Ukraine erreicht unter hohen Verlusten Fortschritte an der Südfront und bei Bachmut. Russland unternimmt einen Entlastungsangriff im Nordosten. Wie ist die Lage und was wird gebraucht?

Diese Analyse bezieht Erkenntnisse aus Besuchen und Gesprächen an der Südfront im Juli 2023 ein. Der wiedergegebene Stand ist zeitverzögert und verzichtet auf genaue Ortsangaben und Informationen zu Truppenbewegungen. 

Nachdem die Ukraine über längere Zeit nur noch sehr kleine Vorstöße wagte, kommen östlich von Robotyne nun wieder größere ukrainische Formationen zum Einsatz. Dabei gelangen der Ukraine Fortschritte, allerdings noch kein Durchbruch durch die russischen Verteidigungsstellungen.

Die Ukraine erleidet bei den Vorstößen im flachen, stark verminten Gelände weiter hohe Verluste, derzeit vor allem durch russische Artillerie und Raketenartillerie.

Südlich von Welika Novosilka bringt die Ukraine den Ort Staromajorske unter Kontrolle. Seit Beginn der ukrainischen Gegenoffensive Anfang Juni legten die ukrainischen Streitkräfte damit eine Distanz von etwa 12 Kilometern zurück. 

Die Entfernung von Staromajorske bis zur strategisch wichtigen einzigen Eisenbahnlinie durch den Südkorridor beträgt noch 40 Kilometer. Bis nach Mariupol am Asowschen Meer sind es 115 Kilometer.

Neben der Gegenoffensive im Süden führt die Ukraine auch den lokalen Gegenangriff bei Bachmut fort. Ukrainische Kräfte erreichen südlich von Bachmut den Ort Andrijiwka an der Bahnlinie zwischen Bachmut und Horliwka.

Russland führt im Nordosten einen Entlastungsangriff von Kreminna in Richtung Saritschne-Lyman durch und kommt dort 5-6 Kilometer voran. Möglicherweise zieht sich die Ukraine hier mittelfristig auf das Westufer des Flusses Scherebez zurück.

In der Südukraine bilden die ausgedehnten und gemanagten russischen Minenfelder weiter das größte Hindernis für die ukrainische Offensive. Minen werden mit Minenwerfern ständig neu verlegt, wenn die Ukraine Minen beseitigt oder sprengt.

Die Beseitigung von Minen im flachen, offenen Gelände mit weiter Sichtbarkeit und unter ständiger Überwachung durch viele russische Drohnen ist für die Ukraine schwierig und gefährlich. 

Russland verfügt über immer mehr Drohnen und scheint auch besser dazu in der Lage, die Drohnen einzusetzen. Der bisherige Vorteil der Ukraine bei Drohnen wird geringer, auch weil die leistungsfähige russische elektronische Kampfführung wirksamer gegen ukrainische Drohnen wird. 

Die neu gelieferte Streumunition bringt die Ukraine gegen die ausgebauten russischen Verteidigungsstellungen erkennbar in eine bessere Position. Die neuen ukrainischen Fortschritte in der Südukraine und südlich von Bachmut werden auch durch Streumunition ermöglicht.

Die langwierige und mühselige Bekämpfung der russischen Artillerie in den letzten Wochen reduzierte die traditionelle Überlegenheit der Russen bei der Artillerie etwas und verbesserte damit die Voraussetzungen für ukrainische Angriffe.

Gleichzeitig zum Frontgeschehen bekämpft die Ukraine sehr gezielt und systematisch die russische Logistik, Führung und Kommunikation im Hinterland. Dadurch, dass offenbar eine Beschränkung für den Einsatz von Storm Shadow und SCALP-EG aufgehoben wurde, gelangen wichtige Schläge gegen große Munitionsdepots auf der Krim.

Russland feuert in Frontnähe, z.B. von Enerhodar in Richtung Nikopol und von Russland aus ins Gebiet Sumy, zu Ausbildungszwecken wahllos mit Mörsern, Artillerie und Drohnen in ukrainische Städte und Siedlungen.

Die Ukraine braucht mehr Technik zur Beseitigung und Sprengung von Minen. Möglicherweise braucht es für riesige, gemanagte Minenfelder ganz neue Lösungen, über die dringend auch im Westen nachgedacht werden muss.

Die Ukraine braucht weiter mehr Artilleriemunition und Unterstützung bei der Munitionslogistik, auch wenn sie mittlerweile dazu in der Lage ist, eigene Produktionskapazitäten für 155mm Kaliber-Munition schrittweise aufzubauen. Die EU produzierte seit März bisher Papier, leider aber noch keine Munition.

EU und Mitgliedsstaaten sollten darüber nachdenken, Munition, Ersatzteile und Technik zunehmend direkt in der Ukraine zu produzieren oder die Produktion dort zu skalieren. Die Ukraine schafft dafür die Voraussetzungen.

Die Ukraine baut ihre eigene Drohnenproduktion schnell aus, braucht aber Unterstützung bei kritischen Komponenten. Die Ukraine braucht mehr Systeme zur Drohnenabwehr und bessere elektronische Kampfführung zur Abwehr russischer Drohnen.

Die Ukraine braucht weiter mehr Luftverteidigungssysteme und Lenkflugkörper. Möglicherweise können die von den USA von Taiwan zurückgekauften MIM-23 Hawk die Lage an der Front diesbezüglich verbessern.  

Ein stetiger Nachschub an präzisen Langstreckenwaffen und Munition ist für die Ukraine sehr wichtig. Neben Storm Shadow und SCALP-EG sollten auch Taurus und ATACMS endlich geliefert werden.

Die Ukraine braucht weiter schnellstmöglich Mehrzweckkampfflugzeuge. Die geplante Lieferung von F-16 sollte maximal beschleunigt werden.

Und: In der Ukraine wollen viele Schulen, sofern sie über Bunker verfügen, nach langer Zeit der Online-Beschulung im September den Präsenzbetrieb wieder aufnehmen. Die Schulbusse sind mittlerweile jedoch im militärischen Einsatz. Die Ukraine braucht Schulbusse.

Die Ukraine verfügt weiter über erhebliche Ressourcen, die bei der Gegenoffensive noch nicht eingesetzt wurden. Durchbrüche und Übergang zu Bewegungskrieg sind weiterhin möglich, auch wenn die ersten Wochen der Gegenoffensive sehr langsam verliefen.

Die Lage könnte sich strategisch schneller verändern, wenn die Ukraine die einzige Eisenbahnlinie im Südkorridor und/oder die Zugänge zur Krim in Reichweite ihrer Präzisionswaffen bringt. In jedem Fall ist langfristige, systematische und industriell unterlegte Unterstützung notwendig.

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Karte: @War_Mapper

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