Gedanken zum 1. August 2020 in Berlin

Gedanken zum 1. August 2020 in Berlin

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Gedanken zum 1. August 2020 in Berlin

Die Versammlung am Samstag war die vielleicht größte regierungskritische Demonstration in Deutschland seit dem 4. November 1989. Die Entscheidung der Regierung, sie auflösen zu lassen, und die anschließende Ohnmacht der staatlichen Organe, diese Auflösung auch vollziehen zu können, weisen den Weg in politisches Neuland.

Wieviele Menschen haben demonstriert?

Zunächst einige Fakten zum strittigen Punkt der Teilnehmerzahl: Die Polizei spricht von 20.000 Personen, Sympathisanten der Versammlung hingegen von einer Million. Die ARD veröffentlichte am 2. August einen „Faktenfinder“-Beitrag, der feststellt, dass man „selbst bei großzügigen Berechnungen nicht auf deutlich über 20.000 Menschen“ käme, die Angaben der Polizei also richtig wären. Stimmt das? Multipolar hat nach Daten und Vergleichszahlen gesucht und nachgerechnet.

Die Demonstranten versammelten sich nach ihrem Zug durch die Stadt am Nachmittag auf der Straße des 17. Juni zwischen dem Brandenburger Tor und der Siegessäule. Dieser 1,9 Kilometer lange Abschnitt ist als „Partymeile“ bekannt, unter anderem durch die über viele Jahre dort stattfindende Loveparade. Die sechsspurige Straße ist, zusammen mit dem Mittelstreifen, den Parkspuren, Rad- und Gehwegen sowie eingeschlossenen Grünstreifen ungefähr 35 Meter breit. Vorsichtig geschätzt ergibt sich daraus eine Gesamtfläche von 35 mal 1.900 gleich 66.500 Quadratmetern. Da die Fläche zu den Außenseiten nicht begrenzt ist, sondern nahtlos in den Tiergarten übergeht, ist dies ein Minimalwert. Die Veranstalter der offiziellen Silvesterfeierlichkeiten in Berlin sprechen von einer Fläche der Partymeile von 80.000 Quadratmetern.

Wieviele Menschen befanden sich durchschnittlich auf einem Quadratmeter? Auf einer schematischen Darstellung eines internationalen Experten für die Sicherheit und Planung großer Menschenmengen ist zu sehen, wie es von oben betrachtet aussieht, wenn in einer Menge ein, zwei, drei oder mehr Menschen pro Quadratmeter stehen. Für die Demonstration vom 1. August erscheint angesichts der vorliegenden Filmaufnahmen und dieses Schemas eine Zahl zwischen zwei und vier realistisch. Daraus ergibt sich bei 80.000 Quadratmetern eine Teilnehmerzahl zwischen 160.000 und 320.000. Dass eine solche Menge tatsächlich auf diesem Staßenabschnitt Platz findet, wird bestätigt durch Aussagen des Leiters des Straßen- und Grünflächenamtes Berlin Mitte, Harald Büttner, von 2013, demzufolge 300.000 Besucher auf der Partymeile möglich wären.

Zu den Polizeiangaben: Selbst wenn man eine angesichts der vorliegenden Bilder eher niedrig erscheinende Zahl von zwei Personen pro Quadratmeter annimmt, würde das bei 20.000 Demonstranten bedeuten, dass der Platz zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule nur zu einem Achtel gefüllt und somit zu fast 90 Prozent leer gewesen wäre – was offenkundig nicht stimmt.

Fazit: Die angebliche „eine Million“ ist den vorliegenden Daten zufolge ebenso stark übertrieben (da faktisch auf dieser Fläche unmöglich), wie die Polizeiangaben von 20.000 extrem untertrieben sind. Realistisch erscheint eine Besucherzahl im unteren bis mittleren sechsstelligen Bereich. Das heißt:

  • Es handelt sich wohl tatsächlich um die größte regierungskritische Demonstration in Deutschland seit dem 4. November 1989.

  • Polizei und Medien täuschen die Öffentlichkeit massiv.

Die Polizei „beendet“ die Demonstration

Das Schlüsselereignis des Tages war die Besetzung der Bühne durch die Polizei kurz vor 17 Uhr und die anschließende Durchsage: „Ihre Versammlung ist hiermit aufgelöst“ – was vom Publikum mit den Sprechchören „Wir bleiben hier“ und „Wir sind das Volk“ quittiert wurde.

An dieser Aktion fallen zwei Aspekte ins Auge. Der eine ist der formale: Bürgern das Demonstrieren verbieten zu wollen, weil sie amtliche Vorgaben (Abstand, Maske) nicht befolgen, deren Strittigkeit ja überhaupt erst das Anliegen (!) ihres Protestes ist, grenzt ans Absurde. Es gehört zur Wahrheit, dass aktuell fast 20 Prozent der Deutschen die Corona-Maßnahmen der Regierung für übertrieben halten. Man darf annehmen, dass sich diese 15 Millionen Bundesbürger durch die Demonstranten in Berlin zum großen Teil vertreten fühlen – das Anliegen also eine erhebliche Legitimation in der Bevölkerung besitzt.

Der andere, ebenso entscheidende Aspekt der Demo-„Auflösung“ ist der politische: Die Auflösung ließ sich nicht durchsetzen. Die Bürger ignorierten die Anweisung einfach und blieben friedlich stehen – mit Erfolg. Wie sollte es auch anders sein: Der Protest einer sechsstelligen Menge lässt sich grundsätzlich nicht „von oben“ beenden, ohne dabei massive (und schlimme Bilder erzeugende) Gewalt anzuwenden. Hätte die Polizei solche Gewalt angewandt, wäre die Regierung in der Folge unter massiven Druck geraten – ein PR-Supergau.

Dies ist das Wesen und der Sinn großer Demonstrationen: Eine Regierung, und zwar egal ob nun in Paris, Peking oder Berlin, kann hunderttausende protestierende Menschen nicht ignorieren. Menschen in so großer Zahl sind eine Kraft, die allein durch ihren friedlichen Protest Tatsachen schafft. Die Bundesregierung, der diese Erfahrung neu ist, steckt zur Zeit mitten in einem Lernprozess. Das Verhalten der Polizei zeugte von großer Rat- und Hilflosigkeit. Man ist, so scheint es, mit seinem Latein am Ende.

Der 1. August 2020 hat eine Tür für politische Möglichkeiten aufgestoßen.

Livestreams der Demonstration:

Stefan Bauer (9 Stunden)
Samuel Eckert (6 Stunden)
RT Deutsch (8 Stunden)

Anmerkung: Der öffentlich-rechtliche Nachrichtensender Phoenix (Slogan: „Das ganze Bild“) berichtete nicht live. Dort wurde am Nachmittag der Demonstration folgendes Programm ausgestrahlt: 15:00 Uhr: Königliche Dynastien – Die Grimaldis, 15:45 Uhr: Königliche Dynastien – Die Bernadottes, 16:30 Uhr: Königliche Dynastien – Die Welfen, 17:15 Uhr: Die Adria der Habsburger, 18:00 Uhr: Habsburg und die Alpen.

Die Tagesschau litt unter ähnlichem Realitätsverlust: Sie meldete am Abend des 1. August in einem Bericht zur Demonstration, „dass die Polizei eingriff und die Veranstaltung beendete. Die meisten der etwa 20.000 Teilnehmenden verließen dann unter Protest langsam den Ort. Wer sich weigerte, wurde von der Polizei entfernt.“ Das Gegenteil war der Fall, wie die vorliegenden Livestreams dokumentieren.

Source multipolar-magazin.de

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