Eine neue Phase des Krieges beginnt

Eine neue Phase des Krieges beginnt

Nico Lange

Die Ukraine tritt bei der Gegenoffensive im Süden in eine neue Phase ein. Russland scheitert bisher mit einem massiven Angriff bei Awdijiwka, versucht es jedoch weiter. Wie ist die Lage und was wird gebraucht?

Die Gegenoffensive der Ukraine beschränkt sich im Schwerpunkt bei Robotyne nur noch auf minimale Vorstoßversuche. Nach fast fünf Monaten und zuletzt nur sehr mühevollem und langsamem Vorrücken zu Fuß ist die Truppe erschöpft.

Die Ukraine nimmt an diesem Frontabschnitt eine operative Pause und gruppiert insgesamt derzeit Truppen und Ressourcen um, auch aus Vorsicht mit Blick auf die derzeitige Haushaltsblockade für weitere Ukrainehilfen in den USA.

Mit ATACMS kann die Ukraine endlich auf Präzisionswaffen zurückgreifen, die alle russischen Stäbe, logistischen Knotenpunkte, Depots und Flugplätze zwischen Frontlinie und Asowschen Meer in ukrainische Reichweiten bringen.

Entgegen den Unkenrufen kann die ukrainische Gegenoffensive wichtige Erfolge vorweisen. Schwer befestigte russische Verteidigungsstellungen wurden überwunden und das russische Angriffspotenzial im Osten wurde geschwächt, weil Russland gezwungen war, Verstärkungen im Süden einzubringen. 

Durch das Ausschalten von Radaren, Flugabwehr und russischen Schiffen auf der Westseite der Krim erreichte die Ukraine aus eigener Kraft, dass Getreideschiffe aus Odessa wieder fahren können, und erweiterte ihre operativen Möglichkeiten.

Die Ukraine überquerte zuletzt nordöstlich von Cherson und westlich von Nowa Kachowka an zwei Stellen den Dnipro, um Schläge gegen russische Artilleriestellungen durchzuführen. Derzeit ist offen, ob daraus ein Brückenkopf und ein neuer Angriffsvektor entstehen können.

Ein zentrales Problem bleibt weiterhin die russische Luftüberlegenheit entlang der Frontlinie. Russland fliegt jeden Tag Luftangriffe und Drohnenangriffe in Frontnähe, während die Ukraine vor allem die Flugzeuge und Hubschrauber kaum direkt bekämpfen kann.

Russland setzt außerdem zunehmend billig umgerüstete Gleitbomben ein, die mit Glonass-Satellitennavigation gesteuert werden. Lancet-Kamikazedrohnen und mit Glonass nachgerüstete Gleitbomben sind für Russland an der gesamten Front billige Mittel der Wahl.

Russland greift bei Awdijiwka sowohl aus nordwestlicher als auch südwestlicher Richtung massiv an. Mit dem stärksten russischen Angriff seit Monaten will Russland offenbar mit aller Macht die Initiative zurückgewinnen und im Idealfall ein Stadtgebiet zum Überwintern der Truppen in die Hände bekommen.

Die russischen Kommandeure führen die Offensive bei Awdijiwka im Sowjetstil ohne Rücksicht auf eigenes Material und eigene Truppe. Ganze Kolonnen russischer Schützenpanzer, Truppentransporter und Kampfpanzer gingen dadurch bereits in ukrainischem Artilleriefeuer und in Minenfeldern unter. 

Trotz der höchsten russischen Verluste an Material und Truppen seit langem werfen die russischen Kommandeure bei Awdijiwka weiterhin neue Wellen russischer Fahrzeuge und Truppe ins Gefecht, bisher jedoch ohne nennenswerte Ergebnisse.

Die Ukraine braucht weiter große Mengen an Artilleriemunition, die nur mit einer Erhöhung der Produktionskapazitäten in Europa und in der Ukraine lieferbar sein werden. Der Bedarf an Mörsern und Mörsermunition sollte zudem nicht übersehen werden.

Die Ukraine braucht ständigen Nachschub bei Präzisionswaffen mit hohen Reichweiten, dazu gehören ATACMS in weiteren Varianten auch mit Monobloc-Sprengköpfen, Taurus und GLSDB.

Mehr Luftverteidigungssysteme und Munition für die Luftverteidigung werden gebraucht. Auch hier ist eine Erhöhung der Produktionskapazitäten schon lange geboten. "Stetige" Lieferung in kleinen Chargen ist zu wenig.

Die Ukraine braucht mehr und bessere Fähigkeiten der elektronischen Kampfführung zum Jammen russischer Drohnen und russischer Glonass-gesteuerter Munition. Hier müssen die Partnern schnell handeln und auch mehr Mittel gegen die leistungsstarken russischen Jammer zur Verfügung stellen.

Gemeinsame Industrieproduktion und schnelles Erhöhen der Kapazitäten für Wartung und Instandsetzung in der Ukraine sind der richtige Weg. Gleichzeitig müssen vor allem die Europäer mit europäischen und nationalen überjährigen Abnahmeverpfichtungen endlich die Kapazitäten ihrer Industrie für Munitions- und Waffenproduktion ausnutzen.

Die Ukraine ist besorgt um weniger Lieferungen aus USA wegen der dortigen Haushaltsblockade. Zum jetzigen Zeitpunkt besteht aber kein Ressourcenkonflikt zwischen der US-Unterstützung für Israel und der für die Ukraine.

Die Europäer sollten massiv gegen die ausufernde Umgehung der Sanktionen durch europäische Unternehmen vorgehen, die zur Waffenproduktion in Russland beitragen. Die Sanktionen müssen diesbezüglich nachgeschärft und Unternehmen, die über zentralasiatische Staaten oder China weiter an Russland liefern, hart sanktioniert werden.

Putin hat Russlands Wirtschaft und Gesellschaft auf dauerhaften Kriegsmodus umgestellt. Die Antwort darauf müssen höhere ukrainische und europäische Waffen- und Munitionsproduktion sowie langfristige Militärhilfen und Sicherheitszusagen für die Ukraine sein.

 Karte: @AndrewPerpetua

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