Eine Wiedergeburt wird es nicht geben

Eine Wiedergeburt wird es nicht geben

Christoph Wälz (Übersetzung, 27.12.2022)

Das oppositionelle russische Studierendenmagazin DOXA schreibt in seinem Newsletter vom 22.12.2022:


Die russische Invasion in die Ukraine hat viele Menschen, die in Russland leben, aber keine Russ:innen sind, dazu veranlasst, darüber nachzudenken, wie wir zu den sogenannten "kleinen Nationen Russlands" geworden sind. Wir haben viele Parallelen zwischen der Art und Weise gesehen, wie die "russische Welt" versucht, die unabhängige Ukraine zu absorbieren, und der Art und Weise, wie die derzeitigen ethnischen Republiken zuvor "freiwillig Teil Russlands" wurden. Wir haben gesehen, wie ein Staat, in dem offene Nationalisten Führungspositionen in den Regierungsstrukturen besetzen, das Töten von Einwohner:innen eines Nachbarlandes als "Entnazifizierung" rechtfertigt. Wir haben gehört, wie die Propaganda offen von der Wiedergeburt eines riesigen zentralisierten Reiches spricht, in dem es keine andere Identität als die russische und keine andere Sprache als die russische gibt.

Diese Monate haben uns gezwungen, uns selbst und einander viele schwierige Fragen zu stellen. Und egal, wie sehr die russische Propaganda versucht, diesen Prozess ins Lächerliche zu ziehen oder zu verunglimpfen, er kann nicht aufgehalten oder rückgängig gemacht werden, weil wir uns verändert haben. Es wird nicht gelingen, die wachsende Wut des nicht-russischen Russlands zurückzudrängen: Es hat sich zu viel von ihr angesammelt.

Und je weiter der Prozess voranschreitet, desto erstaunlicher ist es, dass die Mehrheit der liberalen Persönlichkeiten Russlands, die Gesichter des "Anti-Putin-Widerstands", weiterhin ignorieren, was geschieht. Ein perfektes Beispiel dafür ist das neue Bildungsprojekt "Wiedergeburt", das heute eröffnet und in den letzten Monaten auf dem YouTube-Kanal von Ekaterina Shulman lautstark beworben wurde.

In diesem Projekts bieten neun Männer und Ekaterina Shulman Kurse über die Theorie der Demokratie, des Kapitalismus und des Protests, über die Geschichte des Christentums usw. an und versprechen, dass dieses Wissen in Zukunft die Entwicklung einer "Strategie für einen wiederhergestellten Staat Russland ermöglichen wird, der als Erbe der russischen, europäischen und weltweiten Kultur wiedergeboren wird". Nach den gewählten Bildern zu urteilen - blonde Mädchen mit Monomach-Hüten, Blattgold und Porträts von Monarchen - haben sich die Gründer des Projekts besonders von der Ästhetik des russländischen Reiches inspirieren lassen. Das Wort "Zivilisation" im "Über uns"-Video erscheint vor dem Hintergrund der jungen und aufgerauten Katharina II., der Kaiserin, die als erste die Krim eroberte und den Prozess des Völkermords an den Krimtatar:innen begann. Derselben Katherina, deren Truppen im Interesse des "Wachstums" des Landes ganze Städte abschlachteten.

So beobachten wir auch im zehnten Monat der russischen Invasion in die Ukraine weiterhin, wie russländische Liberale dekoloniales Wissen ignorieren. Sie stellen keine Fragen zu den Gedanken und Interessen derjenigen, die nicht "Erben der russischen Kultur" waren und es auch nicht werden wollen. Sie stellen weder die abstrakten liberalen Ideale von "Demokratie, Freiheit und Frieden" in Frage, noch zweifeln sie daran, indem sie das "Europäische" als Quelle des Fortschritts darstellen - im Gegensatz zum Osten. Das Programm "Wiedergeburt" hat einen Kurs, der in der besten Tradition des Orientalismus steht: "Der Osten ist eine heikle Angelegenheit"... 

Wenn man heute das Wort "Zivilisation" mit einem Porträt von Katharina II. verbindet, die vergoldeten Sehenswürdigkeiten von Moskau und St. Petersburg vorführt und die "Wiedergeburt Russlands" verspricht, dann kann das nur von Leuten gemacht werden, die blind und taub sind für den Schmerz und den Hass des tschetschenischen Volkes, das vom einigermaßen demokratischen Moskau der 1990er Jahre einem Völkermord ausgesetzt wurde. Blind und taub für den Hass und das Leid des ukrainischen Volkes, das einem Völkermord durch das autoritäre Moskau des Jahres 2022 ausgesetzt ist. Blind und taub für den Hass und den Schmerz all derer, deren Erstsprache eben nicht Russisch ist. Und diese Gefühllosigkeit ist ungeheuerlich.

Quelle: https://antiwarletter.doxa.team/emails/webview/141971/75229120250775297

Übersetzung: Christoph Wälz (https://linktr.ee/christophwaelz)

Report Page