Donald Trump nicht zuzuhören, war ein schwerer Fehler
Jahrzehntelang wurden die europäischen Armeen kaputtgespart. Die Regierungen verliessen sich auf den grossen Bruder jenseits des Atlantiks. Jetzt droht ihnen die bedingte Abwehrbereitschaft – weil sie Trumps Botschaften zu lange verdrängt haben.
Die Welt ist wie ein Schulhof. Ein halbstarker Klassentyrann drangsaliert die Sitznachbarn und macht ihnen in der Pause die Hölle heiss. Der Rest kann ohne etwas zu riskieren Solidarität demonstrieren, weil eines der Mädchen einen grossen Bruder in der Oberstufe hat. Unter den Augen der ahnungslosen Lehrer herrscht zwischen Tiktok und Turnen ein Gleichgewicht des Schreckens. Doch plötzlich müssen der grosse Bruder und seine kleine Schwester in eine andere Stadt ziehen, weil die Eltern ihre Jobs verlieren. Ein berüchtigter Sitzenbleiber aus der Parallelklasse des Mädchens rückt auf ihren freien Platz. Und schon drangsalieren zwei halbstarke Klassentyrannen die Schüler, die jetzt lernen müssen, sich selbst zu helfen.
Willkommen in der europäischen Realität, wie sie Ende Jahr aussehen könnte – sofern Donald Trump erneut zum Präsidenten der USA gewählt wird. Zusammen mit Putin wird er die Europäer nach allen Regeln der Kunst mobben. Den Vorgeschmack liefert er diese Woche. Er macht die Beistandsverpflichtung der Nato von den Verteidigungsausgaben der Mitglieder abhängig. Wer wenig zahlt, kann von den USA noch weniger erwarten. Trump lädt die Russen gar indirekt zum Angriff auf die Geizigen ein. Die könnten tun, «was auch immer zur Hölle sie tun wollen».
Wenig überraschend fallen alle aus allen Wolken. «Was fällt dem Verbalterroristen ein!», so nervt sich der versammelte Restwesten. Trump sei «verantwortungslos und gefährlich». Die Dänen und die Esten sprechen von einem «Weckruf für die Europäer, mehr Geld in die Rüstung zu stecken». Wie bitte? Ein Weckruf? Wie kann es sein, dass ein ganzer Kontinent im Schlafwagen der Katastrophe entgegenfährt, obwohl Trump bereits in seiner letzten Präsidentschaft seine Nato-Kritik x-mal wiederholte und Putin irgendwann in naher Zukunft an der polnischen Grenze stehen könnte? Obwohl Weltordnungen in der Regel nach achtzig bis hundert Jahren in sich zusammenfallen, wie Geopolitiker in diesen Tagen gebetsmühlenartig wiederholen? Die Antwort lautet: Verdrängung und Gier.
Wahrheiten lassen sich nun einmal leichter beiseitewischen, wenn der Absender der Botschaft zu viel Bräunungscrème verwendet. Trotzdem liegt Trump richtig. Gleich drei Jahrzehnte verfrühstückt Europa nach dem Fall der Mauer gedankenlos die Friedensdividende, spart seine Armeen kaputt und delegiert die Abdeckung des eigenen Sicherheitsbedürfnisses an den grossen Bruder jenseits des Atlantiks. Maximale Marge auf Kosten der Amerikaner – einmal abgesehen von ein paar lukrativen Deals der amerikanischen Rüstungsindustrie.
Gier frisst Hirn. Anders lässt sich nicht erklären, warum alle dachten, ein solch schiefes Geschäftsmodell halte ewig. In die gleiche Falle tappten einst die Schwarzgeldschweizer mit dem Bankgeheimnis oder die Volkswagen-Schummler mit der Dieseltechnologie. Sie hielten so lange an den schmutzigen Profitmaschinen fest, bis sie die Amerikaner über die Klippe warfen. Es ist höchste Zeit, erwachsen zu werden.
Ich wünsche Ihnen einen reifen Sonntag
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Quelle: https://www.nzz.ch/meinung/donald-trump-nicht-zuzuhoeren-war-ein-schwerer-fehler-ld.1814583