Die ukrainische Verteidigung hält stand, aber Bachmut ist unter Druck.

Die ukrainische Verteidigung hält stand, aber Bachmut ist unter Druck.

Nico Lange

Russland greift weiter an mehreren Frontabschnitten an, erreicht aber unter hohen Verlusten nur geringe Geländegewinne. Die Ukraine hält insgesamt die Frontlinie, Bachmut bleibt aber unter sehr hohem Druck. Wie ist die Lage und was wird gebraucht?

Nachdem die Ukraine ihre Gegenangriffe im Nordosten bis fast nach Swatowe im Gebiet Luhansk geführt hatte, befindet sich Russland in diesem Frontabschnitt seit einiger Zeit wieder im Angriffsmodus. In den vergangenen Monaten erreichte Russland dort insgesamt etwa 10-12 km Gebietsgewinn von Swatowe aus in Richtung Stelmachiwka.

Russland greift auch von Kreminna in Richtung Lyman aus an, sowie von Lyssytschansk westlich in Richtung des Siwerskyj Donez Flusses, erreicht dort aber kaum Veränderungen des Frontverlaufs.

Nördlich von Bachmut treiben die Wagner-Gruppe und russische Streitkräfte trotz extremer Verluste die Angriffe massiv weiter voran. Die russischen Truppen stoßen nordwestlich entlang der Straße in Richtung Slowjansk vor und versuchen gleichzeitig eine Umfassung von Bachmut in Richtung Südwesten voranzubringen. Derzeit werden die russischen Angriffe dort aber durch ukrainische Verteidigungsstellungen an Gewässern und in Höhenlagen aufgehalten.

Auch südlich von Bachmut versucht Russland die Umfassung der Stadt voranzubringen, kommt aber über durch die Ukrainer hart verteidigte Höhenlagen westlich von Bachmut bisher nicht hinweg.

Der Kampf um Bachmut dauert bereits länger als die Schlacht um Stalingrad. Russlands Aufwand mit fünfstelligen Verlustzahlen ist durch die geringe strategische Bedeutung des Ortes militärisch nicht zu rechtfertigen. 

Sollte die Ukraine aufgrund einer drohenden Umfassung Bachmut räumen, gewinnt Russland die Zugänge zu den Straßen nach Siwersk, Slowjansk und Kostjantyniwka.

Die Ukraine kann sich bei einem Rückzug aus Bachmut auf gut ausgebaute Verteidigungsstellungen und auf Höhenzüge wenige Kilometer westlich von Bachmut zurückziehen, so dass die Fortsetzung der Angriffe für Russland auch weiter schwierig, langwierig und verlustreich wäre.

Russland greift auch nordwestlich von Donezk weiter an, hat aber dort gegen die gut ausgebauten ukrainischen Stellungen bisher kaum Erfolge.

Auch bei Marinka und Wuhledar versucht Russland weiter Angriffe, ohne jedoch etwas zu erreichen. Es ist bemerkenswert, dass Russland nach den absolut verheerenden Verlusten des gescheiterten Großangriffs bei Wuhledar weiter an der gleichen Stelle Angriffe unternimmt.

Russlands "Frühjahrsoffensive" besteht aus mehreren lokalen Attacken, die ohne Rücksicht auf die eigenen Leute unter brutal hohen Verlusten kaum Landgewinne erreicht. Will Russland mit diesem Rezept weiter vorgehen, werden ständig weitere Mobilmachungen nötig sein.

Für die Ukraine bleibt die entscheidende kurzfristige Frage, ob sie an der Frontlinie den lokalen russischen Angriffen standhalten kann, ohne Reserven einsetzen zu müssen. Bisher schien das zu gelingen, jetzt wurden aber zusätzliche Kräfte nach Bachmut verlegt.

Die Ukraine braucht weiterhin Zeit, um die Reserven auszubilden und mit Ausbildung und Übung die neuen Schützenpanzer und Kampfpanzer zu integrieren und das Gefecht der verbundenen Waffen zu üben. 

Aufgrund der neuen Angriffstaktik der Russen steigt an der gesamten Frontlinie der Bedarf der Ukraine an Mörsern und Mörsermunition. Hier sollte möglichst schnell und viel nachgeliefert werden.

Die Ukraine braucht weiterhin viele Drohnen, auch kommerzielle. Besonders kommerzielle Drohnen mit Nachtsichtfähigkeiten machen einen großen Unterschied und sollten in großem Stil, z.B. durch die EU, für die Ukraine beschafft werden.

Weiterhin bleiben Artillerie und Artilleriemunition ein kriegsentscheidender Faktor. Die Ukraine braucht so viel wie möglich Artilleriemunition und eine Erhöhung der Produktionskapazitäten für die langfristige Unterstützung.

Die Ukraine braucht Waffen und Munition mit höheren Reichweiten. Nur damit könnte die Ukrainer die Logistik, Führungs- und Kommunikationseinrichtungen treffen, die Russland derzeit außerhalb der aktuellen ukrainischen Reichweiten in einem schmalen Küstenstreifen hält.

Gepanzerte Fahrzeuge und jede Form geschützter Mobilität sind weiterhin notwendig. Mit Blick auf die die Ukraine unterstützenden führenden Industriestaaten ist es schlicht inakzeptabel und unverantwortlich, dass ein Jahr nach Kriegsbeginn immer noch ukrainische Soldaten in handelsüblichen Fahrzeugen an der Front unterwegs sein müssen. 

Die Terrorisierung der Zivilbevölkerung durch massenweisen Beschuss mit umfunktionierten S-300 und Drohnen bleibt in den Städten in Frontnähe ein Problem. Zur besseren Verteidigung wären Systeme wie Iron Dome oder C-RAM-Systeme wie Phalanx, MANTIS oder Centurion notwendig.

Putin setzt mit der Frühjahrsoffensive zynisch darauf, dass Russland bei seinem "Menschenmaterial" keinerlei Rücksicht auf eigene Verluste nehmen muss, während die ukrainischen Streitkräfte versuchen müssen, Verluste zu vermeiden. Bisher erreicht er damit jedoch nur wenig.

Putin geht offenbar nach dem Motto vor: Lieber ein schlechter Krieg als ein schlechter Frieden. Militärisch scheint es für Russland aktuell nur darum zu gehen, den Krieg irgendwie weiterzuführen, während Putins wahre Hoffnungen darauf liegen, dass in der Ukraine innenpolitische Konflikte aufbrechen und die politische Einigkeit der Unterstützer im Westen schwindet.

Während die russische Seite mit sehr hohem Aufwand bisher keine militärischen Ziele erreicht, ergibt sich für die Ukraine mit weiterer ständiger Unterstützung möglicherweise bald eine Chance, die Front zu durchbrechen, weitere eigene Gebiete zurückzuerobern und damit einem Frieden näherzukommen.

Karten: @War_Mapper @Ludovit110 @david_lisovtsev

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