Die Ukraine gewinnt die Initiative. Wie ist die Lage und was wird gebraucht?

Die Ukraine gewinnt die Initiative. Wie ist die Lage und was wird gebraucht?

Nico Lange

Die Ukraine gewann westlich des Dnipro und mit einem schnellen Vorstoß in Richtung Isjum und Kupjansk die Initiative. Durch den teilweisen Zusammenbruch der russischen Front im Nordosten war die Situation kurzzeitig unübersichtlich. Wie ist die Lage und was wird gebraucht?

Seit dem 29.8. führt die Ukraine eine begrenzte Angriffsoperation gegen die russischen Truppen auf dem westlichen Ufer des Dnipro. Mit einem systematischen "slice and starve" werden die russischen Truppen vom Nachschub an Munition, Lebensmitteln und Trinkwasser abgeschnitten.

Russland hat bisher noch teilweise Nachschub organisieren können und u.a. mit modernen BMP-3 ausgestattete Verstärkungen eingebracht. Die Ukraine macht langsame, systematische Fortschritte in Richtung Nowa Kachowka und Cherson.

Aufgrund mangelnder mechanisierter Kräfte sucht die Ukraine die direkte Auseinandersetzung in diesem Gebiet weiter zu vermeiden. Einzelne kleinere russische Einheiten befinden sich aufgrund der Nachschubprobleme bereits in einer prekären Lage.

Mit einem überraschenden mechanisierten Vorstoß nördlich von Isjum nutzte die Ukraine Schwachstellen an der russischen Front im Nordosten und die Starrheit russischen Operationsführung aus.

Russland hatte zuvor wochenlang immer wieder weiter südlich in die Richtungen Siwersk und Bachmut angegriffen und dort zuletzt noch einmal Verstärkungen eingebracht, so dass der Frontabschnitt bei Isjum relativ schwach aufgestellt war.

Die Ukraine wagte mit zuvor gut verschleierten mechanisierten Kräften einen überraschenden Vorstoß und durchbrach die russischen Verteidigungslinien. Nach dem Durchbruch leistete Russland kaum noch Widerstand und russische Positionen brachen zum Teil chaotisch zusammen.

Die Ukraine konnte den strategisch bedeutsamen Ort Isjum und das westliche Ufer des Oskil-Flusses mit dem Eisenbahnknoten in Kupjansk zurückerobern. Damit kann Russland den Donbass von Norden her nicht mehr angreifen und große Teile seiner Truppen nicht mehr versorgen.

Russland versucht bis heute durch den Rückzug hinter die Staatsgrenze im Norden und hinter den Fluss Oskil im Osten die Front zu stabilisieren, Truppen neu zu organisieren und Nachschubwege anzupassen. Die Ukraine versucht, sich in den rückeroberten Gebieten zu konsolidieren.

Der mechanisierte Vorstoß war möglich, weil es der Ukraine gelang, aus polnischen PT-91 Kampfpanzern, Krab-Haubitzen, australischen hochmobilen Bushmaster, militärischen und zivilen Drohnen und kleinen Jägertrupps mit Panzerabwehrwaffen einen wirksamen Verbund zu schaffen.

Bemerkenswert ist auch, dass die ukrainische Luftwaffe mittlerweile täglich wieder bis zu 20 Sorties zur Luftunterstützung fliegen kann.

Zum wiederholten Mal gelang der Ukraine durch sehr hohe Disziplin bei der eigenen operativen Sicherheit und die Dominanz im Informationsraum ein großangelegtes Täuschungsmanöver.

Um ohne ausreichende mechanisierte Kräfte erfolgreich gegen die russischen Besatzer anzugreifen, muss die Ukraine jedoch hoch ins Risiko gehen und auf Überraschung, Kreativität und großen Mut setzen.

Die Ukraine hat die Initiative gewonnen und wird sehr wahrscheinlich weitere Vorstöße wagen, um Russland keine Zeit für Neuordnung und Stabilisierung zu geben. Denkbar sind weitere Vorstöße in Richtung Luhansk, in Richtung Mariupol oder von Saporishje in Richtung Melitopol.

Gepanzerte Fahrzeuge aller Art haben sich nach anfänglicher Skepsis für die Ukraine sehr bewährt. Dazu gehören Bushmaster, Mastiff, YPR-765 und andere M113-Varianten, Spartan, Wolfhound, Kipri, Humvee und Husky.

Gleichzeitig ist es schmerzhaft zu sehen, dass selbst in der Angriffsformation Kolonnen mit ukrainischen Soldaten in Kleinbussen und handelsüblichen PKWs mitfahren müssen.

Deutschland könnte mit gepanzerten Fahrzeugen wie Fuchs, Dingo, Mungo und Eagle hier wichtige Unterstützung leisten. Der ukrainische Vorstoß bei Isjum und Kupjansk war dafür ein "proof of concept".

Für die Gegenoffensive der Ukraine sind mehr Schützenpanzer und Kampfpanzer nötig. Um die transatlantische Logistik effizient zu nutzen und wg. des viel geringeren Kraftstoffverbrauchs sind aus Sicht der Ukraine dafür Marder+Leopard besser geeignet als amerikanische Modelle.

Die russischen Truppen setzen ihre Angriffe in Richtung Siwersk und Bachmut im Donbass unterdessen intensiv fort. Die Ukraine scheint hier weiter vor allem auf ihre gut ausgebauten Stellungen zu vertrauen.

Russland setzt jetzt verstärkt auf Raketenangriffe gegen Kraftwerke, Heizkraftwerke, Stromleitungen, Staudämme und zivile Infrastruktur. Die Lieferung der Luftverteidigungssysteme NASAMS und Iris-T wird helfen, kommt aber spät.

Parallel zum Geschehen an der Front intensiviert sich der Kampf um die zivile Lebensfähigkeit und Winterfestigkeit der Ukraine. Schutz und Wiederaufbau kritischer Infrastrukturen werden in den kommenden Wochen erheblich mehr westliche Unterstützung benötigen.

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