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Die Revolution der Ameisen (Ameisentrilogie Band 3)




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Year 2004


Zu diesem Buch Bernard Werbers atemberaubend spannender Roman beginnt in einem halb verfallenen Haus, das Jonathan von s
Das Buch Die Revolution der Ameisen ist der dritte Band von Bernard Werbers international erfolgreichen »Ameisen-Trilogie«. Auch wer die Ereignisse der beiden vorangegangenen Bücher Die Ameisen und Der Tag der Ameisen nicht kennt, wird vom Fortgang der Handlung im Paris des 21. Jahrhunderts in den Bann gezogen werden. Die Hauptpersonen aus den ersten beiden Bänden der Trilogie haben nach ihrem vergeblichen Versuch, die französische Regierung zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit den Ameisen zu bewegen, im Wald von Fontainebleau heimlich eine gut getarnte Pyramide gebaut, wo sie ihre Forschungsarbeiten ungestört fortsetzen können. Die 19jährige Julie Pinson findet dort bei einem Spaziergang ein Buch, den dritten Teil von Edmond Wells’ Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens. Julie und die Rock-Band ihrer Schulfreunde ›Die Ameisen‹ begeistern mit ihren von der Enzyklopädie inspirierten Texten ihr Publikum derart, daß es in der Schule spontan zu einer ›Revolution der Ameisen‹ kommt, deren Ziel es ist, die Ideen und Visionen von Edmond Wells gewaltfrei in die Tat umzusetzen. Parallel hierzu revoltieren auch die Ameisen: Die hochintelligente Kriegerin 103 ruft ihre Artgenossen zum intensiven Kontakt mit den Menschen auf. Sie kommt zu dem Schluß, daß nur eine Kooperation der beiden höchstentwickelten Zivilisationen dieses Planeten das Überleben auf beiden Seiten gewährleisten kann. Werden sich die Ideale der Revolutionäre letztendlich gegenüber der Borniertheit der Mächtigen durchsetzen? ›Eine ganz und gar ungewöhnliche, faszinierende Mischung aus Thriller und Abenteuerroman, phantastisch in jeder Hinsicht!‹ LE JOURNAL DU DIMANCHE Der Autor Bernard Werber wurde 1962 in Toulouse geboren. Nach dem Jurastudium und dem Besuch der Journalistenschule schrieb er sechs Jahre lang für den ›Nouvel Observateur‹ naturwissenschaftliche Artikel. Seine Romane Die Ameisen und Der Tag der Ameisen wurden Welterfolge; in zahlreiche Sprachen übersetzt, erzielten sie ein überwältigendes Echo bei Publikum und Presse. Diese Titel liegen ebenfalls im Heyne-Verlag vor: Die Ameisen (01/9054), Der Tag der Ameisen (01/9885). BERNARD WERBER DIE REVOLUTION DER AMEISEN Roman Aus dem Französischen von Alexandra von Reinhardt Deutsche Erstausgabe S&L: tigger K: Panic Freeware ebook, Mai 2004 Kein Verkauf! WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN HEYNE ALLGEMEINE REIHE Nr. 01/10598 Titel der Originalausgabe LA RÉVOLUTION DES FOURMIS Besuchen Sie uns im Internet: http://www.heyne.de Umwelthinweis: Das Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt. Copyright © Editions Albin Michel, S.A., Paris 1996 Copyright © 1998 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1998 Umschlagillustration: Carole Furby Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin Druck und Bindung: Pressedruck, Augsburg ISBN 3-453-13664-0 Für Jonathan 1+1=3 (zumindest hoffe ich das von ganzem Herzen) Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Band III EDMOND WELLS Erstes Spiel HERZ 1. ENDE Die Hand hat das Buch aufgeschlagen. Die Augen wandern von links nach rechts und dann, sobald sie am Ende einer Zeile angelangt sind, nach unten. Die Augen weiten sich. Nach und nach ergeben die vom Gehirn ausgewerteten Wörter ein Bild, ein riesiges Bild. Hinten im Schädel leuchtet der breite innere Panoramabildschirm des Gehirns auf. Das ist der Anfang. Das erste Bild zeigt … 2. WALDSPAZIERGANG … das riesige Weltall, meerblau und eiskalt. Richten wir unseren Blick auf eine Region, die mit unzähligen bunten Galaxien übersät ist. Am Rand einer dieser Galaxien: eine alte, gleißende Sonne. Stellen wir das Bild noch etwas schärfer ein. Um diese Sonne kreist ein kleiner warmer Planet, marmoriert mit perlmuttfarbenen Wolken. Unter diesen Wolken: violette Ozeane, gesäumt von okkerfarbenen Kontinenten. Auf diesen Kontinenten: Bergketten, Ebenen, riesige grüne Wälder. Unter dem Geäst der Bäume: Tausende von Tierarten, darunter zwei besonders weit entwickelte. Schritte. Jemand ging durch den Frühlingswald. Es war ein junges Menschenkind mit langem, glattem schwarzem Haar. Das Mädchen trug eine schwarze Jacke und einen langen Rock von derselben Farbe. Komplizierte reliefartige Muster zeichneten die hellgraue Iris der Augen. 8 Frohgemut lief sie durch den frühen Märzmorgen. Ihre Brust hob und senkte sich vor Anstrengung. Auf ihrer Stirn und über dem Mund perlten Schweißtropfen, die sie rasch einsog, als sie ihr in die Mundwinkel liefen. Das junge Mädchen mit den hellgrauen Augen hieß Julie und war neunzehn Jahre alt. Sie streifte mit ihrem Vater Gaston und ihrem Hund Achille durch den Wald. Plötzlich blieb sie abrupt stehen. Vor ihr ragte wie ein riesiger Finger ein Granitfelsen über einer Schlucht auf. Sie trat bis zur Felsspitze vor. Unterhalb schien ein Weg zu verlaufen, der abseits der ausgetretenen Pfade zu einem kleinen Tal führte. Julie legte ihre Hände trichterförmig vor den Mund. »He, Papa, ich glaube, ich habe einen neuen Weg entdeckt! Komm her!« 3. VERKETTUNG Sie läuft geradeaus, rast den Abhang hinunter, weicht den Pappelschößlingen aus, die wie purpurrote Spindeln um sie herum aufragen. Flügelschlagen. Schmetterlinge entfalten ihre schillernden Schwingen und jagen einander in der wirbelnden Luft. Ein hübsches Blatt zieht ihren Blick auf sich, ein köstliches Blatt von der Sorte, die einen alle Vorhaben vergessen läßt. Sie weicht von ihrem Weg ab, nähert sich. Ein wunderbares Blatt! Man braucht es bloß viereckig zurechtschneiden, ein bißchen zu zermahlen und einzuspeicheln, damit es in Gärung übergeht und eine kleine weiße Kugel voll süß duftender Myzelien ergibt. Mit ihren Mandibeln trennt die alte rote Ameise den Stiel ab und wuchtet das Blatt wie ein riesiges Segel über ihren Kopf. Bedauerlicherweise kennt sich das Insekt nicht mit den 9 Gesetzen des Segelns aus. Kaum ist das Blatt gehißt, fängt es den Wind. Trotz ihrer Kraft ist die alte rote Ameise als Gegengewicht viel zu leicht. Sie gerät aus dem Gleichgewicht und ins Schwanken. Mit allen Beinen klammert sie sich an den Ast, aber die Brise ist viel zu stark. Die Ameise wird fortgerissen und hebt ab. Sie läßt ihre Beute gerade noch rechtzeitig los, bevor die Höhe bedrohlich werden könnte. Das Blatt schwebt träge nach unten. Die alte Ameise beobachtet es und sagt sich: Nicht weiter schlimm, es gibt genügend andere, kleinere Blätter. Das Blatt kreiselt sehr lange, bis es sanft auf dem Boden landet. Eine Nacktschnecke bemerkt das hübsche Pappelblatt. Welch leckerer Schmaus in Aussicht! Eine Eidechse sieht die Schnecke und will sie verschlingen, da entdeckt auch sie das Blatt. Lieber warten, bis die Schnecke es sich einverleibt hat, dann wird sie noch saftiger sein. Sie belauert die Mahlzeit aus der Ferne. Ein Wiesel wird auf die Eidechse aufmerksam und will sie fressen, als es bemerkt, daß diese darauf zu warten scheint, daß die Schnecke das Blatt verzehrt. Es beschließt, sich ebenfalls zu gedulden. Drei Lebewesen, die einander ökologisch ergänzen, harren geduldig aus. Plötzlich sieht die Schnecke, daß eine andere Schnecke angekrochen kommt. Ob die ihr den Schatz rauben will? Ohne Zeit zu vergeuden, macht sie sich über das verlockende Blatt her und verschlingt es bis zur letzten Faser. Kaum hat sie ihre Mahlzeit beendet, stürzt sich die Eidechse auf sie und saugt sie wie eine Nudel auf. Jetzt ist der Augenblick für das Wiesel gekommen, einen Satz zu machen und sich die Eidechse zu schnappen. Es läuft los, springt über die Wurzeln, stößt aber unvermutet gegen etwas Weiches … 10 4. EIN NEUER WEG Das junge Mädchen mit den hellgrauen Augen sah das Wiesel nicht kommen. Es sprang plötzlich aus einem Dickicht und prallte gegen ihre Beine. Vor Schreck glitt ihr Fuß über den Rand des Granitfelsens. Aus dem Gleichgewicht gebracht, sah sie den gähnenden Abgrund unter sich. Nicht fallen, bloß nicht fallen! Sie ruderte wild mit den Armen. Die Zeit schien stillzustehen. Würde sie abstürzen oder nicht? Einen Augenblick lang glaubte sie, es schaffen zu können, aber eine leichte Brise griff in ihre langen schwarzen Haare und verwandelte sie in ein zerzaustes Segel. Alles verschwor sich gegen sie. Der Wind blies. Ihr Fuß rutschte noch ein Stück ab. Der Boden gab nach. Sie riß ihre hellgrauen Augen weit auf. Ihre Pupillen weiteten sich. Die Wimpern flatterten. Es gab kein Halten mehr. Sie stürzte in die Schlucht. Beim Fallen bedeckten die langen schwarzen Haare ihr Gesicht, als wollten sie es schützen. Sie versuchte sich an den wenigen Pflanzen festzuklammern, die auf dem Steilhang wuchsen, aber sie boten keinen Halt, und Julies Hoffnungen zerstoben, denn ihre Finger vermochten nur Blüten abzureißen. Sie rollte über Kieselsteine, verbrannte sich an einem Vorhang aus Brennnesseln, riß sich die Hände an einem Dornbusch blutig und schlitterte in ein Feld von Farnen, wo sie ihren Sturz zu beenden hoffte. Doch leider verbarg sich hinter den großen Wedeln ein zweiter, noch steilerer Abgrund. Sie verletzte sich an Steinen. Auch ein zweites Farndickicht erwies sich als trügerisch. Immer weiter ging es abwärts. Insgesamt durchbrach sie sieben Pflanzenvorhänge, zerkratzte sich an wilden Himbeersträuchern und wirbelte Sträuße von Gänseblümchen durcheinander. Ihr Fuß stieß gegen einen 11 spitzen Felsen, und stechender Schmerz zuckte in ihrer Ferse. Endlich landete sie in einer klebrig-braunen Schlammpfütze. Sie setzte sich auf, rappelte sich mühsam hoch, wischte sich mit Pflanzenwedeln ab. Ihre Kleider, ihr Gesicht, ihre Haare – alles war mit bräunlichem Morast überzogen. Er war ihr sogar in den Mund geraten und schmeckte bitter. Während sie ihren schmerzenden Fuß massierte und sich von dem Schreck zu erholen versuchte, glitt etwas Kaltes und Schleimiges über ihr Handgelenk. Sie zuckte zusammen. Eine Schlange! Sie war in ein Schlangennest gefallen: Da waren sie und krochen auf sie zu. Sie stieß einen gellenden Schrei aus. Schlangen haben zwar kein Gehör, können aber mit ihrer überaus empfindlichen Zunge Luftschwingungen wahrnehmen. Dieser Schrei kam für sie einer Explosion gleich. Verängstigt flohen sie in alle Richtungen. Besorgte Mutterschlangen legten sich schützend um ihre Nachkommen, ein zuckendes S bildend. Julie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, schob eine lästige Haarsträhne beiseite, die ihr in die Augen hing, spuckte die bittere Erde aus und versuchte, den Abhang zu erklimmen, aber er war zu steil, und ihre Ferse schmerzte. Sie gab es auf, setzte sich wieder hin und rief: »Hilfe, Papa, Hilfe! Ich bin hier unten. Hilf mir! Hilfe!« Sie schrie sich heiser. Vergebens. Allein und verletzt saß sie auf dem Grund einer Schlucht, und ihr Vater unternahm nichts. Ob er sich ebenfalls verirrt hatte? Wer würde sie dann hier tief im Wald finden, unter so dichtem Farngestrüpp? Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Wie sollte sie nur aus dieser Falle herauskommen? Julie wischte sich die Schlammspritzer von der Stirn und blickte sich um. Rechts, am Rand des Grabens, sah sie einen dunkleren Bereich im hohen Gras. Mühsam humpelte sie dorthin. Disteln und Zichorien verdeckten den Eingang zu einer Art Erdtunnel. Sie fragte sich, welches Tier diesen 12 Riesenbau gegraben haben mochte. Für einen Hasen, Fuchs oder Dachs war er zu groß. Bären gab es in diesem Wald nicht. Ob es vielleicht die Behausung eines Wolfs war? Die Höhle war zwar ziemlich niedrig, aber ein mittelgroßer Mensch konnte mühelos hineinkriechen. Ihr war dabei nicht ganz geheuer, aber sie hoffte, daß es irgendwo einen zweiten Ausgang gab. Deshalb kroch sie auf allen vieren in den Lößstollen. Sie tastete sich voran. Der Tunnel wurde immer dunkler und kälter. Unter ihrer Hand lief etwas Stachliges davon. Ein ängstlicher Igel hatte sich zur Kugel zusammengerollt, ehe er in die Gegenrichtung flüchtete. In völliger Dunkelheit robbte sie weiter, mit gesenktem Kopf, auf Ellbogen und Knien. Sie hatte einst sehr lange gebraucht, um laufen zu lernen. Während die meisten Kinder schon mit einem Jahr dazu imstande sind, hatte sie sich achtzehn Monate Zeit gelassen. Der aufrechte Gang war ihr gefährlich vorgekommen. Auf allen vieren fühlte sie sich wesentlich sicherer. Man sah alles, was auf dem Boden herumlag, aus größerer Nähe, und wenn man hinfiel, war es kein Sturz. Gern hätte sie den Rest ihres Lebens auf dem Teppichboden verbracht, wenn ihre Mutter und die Kindermädchen sie nicht gezwungen hätten, aufrecht zu gehen. Dieser Stollen nahm überhaupt kein Ende. Um sich Mut zu machen, zwang sie sich, ein Liedchen zu trällern: Eine grüne Maus lief durchs grüne Gras. Man packt sie am Schwanz, zeigt sie den Leuten ganz. Die Leute sagen keck: taucht sie in Öl, taucht sie in Wasser, und schon habt ihr eine schöne warme Schneck! 13 Sie sang das Lied viermal hintereinander, immer lauter. Ihr Gesangslehrer, Professor Jankelewitsch, hatte ihr beigebracht, sich in die Vibrationen ihrer Stimme wie in einen schützenden Kokon einzuhüllen. Aber hier war es zu kalt, um sich die Kehle aus dem Hals zu schreien. Vor ihrem eisigen Mund bildeten sich Dampfwolken, und schließlich verklang das Liedchen in einem heiseren Räuspern. Wie ein dickköpfiges Kind, das eine Dummheit zu Ende führen will, dachte Julie nicht an Umkehr. Sie kroch unter der Haut des Planeten immer weiter. In der Ferne glaubte sie ein schwaches Licht zu sehen. Erschöpft nahm sie an, daß es sich um eine Halluzination handle, doch dann spaltete sich das Licht in viele winzige gelbe Punkte auf, von denen manche blinkten. Das junge Mädchen stellte sich einen Moment lang vor, in dieser Höhle seien Diamanten verborgen, doch als sie näher herankam, erkannte sie Leuchtkäfer, die auf einem Würfel saßen. Ein Würfel? Sie streckte die Finger aus, und sofort erloschen die Leuchtkäfer und verschwanden. In dieser totalen Finsternis konnte Julie sich nicht auf ihre Augen verlassen. Sie mußte sich ausschließlich ihres Tastsinns bedienen. Der Würfel war glatt. Er war hart und kalt. Es war weder ein Stein noch ein Felsbrocken. Ein Griff, ein Schloß … dieser Gegenstand war von Menschenhand geschaffen. Ein kleiner, würfelförmiger Koffer. Mit letzter Kraft kroch sie aus dem Tunnel zurück ins Freie. Fröhliches Bellen von oben verkündete ihr, daß ihr Hund und ihr Vater sie gefunden hatten. Mit einer Stimme, die wegen der Entfernung sehr gedämpft klang, rief er: »Julie, bist du da unten, mein Mädchen? Antworte bitte, gib mir ein Zeichen!« 14 5. EIN ZEICHEN Sie vollführt mit dem Kopf eine Dreiecksbewegung. Das Pappelblatt zerreißt. Die alte rote Ameise nimmt sich ein anderes und verspeist es unter dem Baum, ohne es lang gären zu lassen. Die Mahlzeit schmeckt zwar fade, ist aber wenigstens nahrhaft. Pappellaub gehört nicht zu ihren Lieblingsgerichten, sie bevorzugt Fleisch, aber da sie seit ihrer Flucht noch nichts gegessen hat, kann sie jetzt nicht wählerisch sein. Nach beendetem Mahl vergißt sie nicht, sich zu säubern. Mit dem Ende eines Beins packt sie ihren langen rechten Fühler und biegt ihn bis zu ihren Lippen herunter. Dann schiebt sie ihn unter den Mandibeln hindurch bis zur Mundöffnung und saugt an ihm, um ihn zu reinigen. Sobald beide Fühler mit Speichelschaum überzogen sind, poliert sie sie in der kleinen borstigen Ritze unterhalb ihrer Beine. Die alte rote Ameise dehnt die Gelenke ihres Unterleibs, ihres Oberleibs und ihres Halses, bis zur Grenze des Möglichen. Dann säubert sie mit ihren Beinen die Facettenaugen. Ameisen haben keine Lider, die ihre Augen schützen und feucht halten könnten. Wenn sie nicht dauernd daran denken, ihre Linsen zu pflegen, sehen sie bald nur noch verschwommen. Je sauberer die Facetten werden, desto besser erkennt sie, was sie vor sich hat. Halt, da ist etwas! Es ist groß, sogar riesig, es ist voller Stacheln, und es bewegt sich. Vorsicht – Gefahr! Aus einer Höhle kommt ein mächtiger Igel. Nichts wie weg! Der Igel, eine imposante Kugel voll spitzer Pfeile, greift sie mit weit aufgerissenem Maul an. 15 6. BEGEGNUNG MIT EINEM ERSTAUNLICHEN MENSCHEN Sie war am ganzen Körper zerkratzt. Instinktiv reinigte sie die tiefsten Verletzungen mit ein wenig Speichel. Humpelnd trug sie den würfelförmigen Koffer in ihr Zimmer und setzte sich aufs Bett. Von links nach rechts hingen über ihr an der Wand Poster von der Callas, Che Guevara, den Doors und Attila dem Hunnen. Mühsam stand Julie wieder auf und ging ins Bad. Sie duschte heiß und rieb sich kräftig mit ihrer Lavendelseife ab. Dann hüllte sie sich in ein großes Handtuch, schlüpfte in Badeschlappen und fing an, ihre schwarzen Kleider von den lehmfarbenen Erdklumpen zu reinigen. Ihre Schuhe konnte sie nicht mehr anziehen, denn ihre Ferse war dick angeschwollen. Sie holte ein altes Paar Sommersandalen aus dem Schrank, deren Riemen nicht auf die Ferse drückten und ihren Zehen Platz ließen. Julie hatte nämlich kleine, aber sehr breite Füße. Die große Mehrheit der Fabrikanten stellte für Frauen nur schmales, spitzes Schuhwerk her, was leider zu vielen schmerzhaften Schwielen führte. Erneut massierte sie sich die Ferse. Zum erstenmal spürte sie, was sich alles in diesem Körperteil befand, so als hätten ihre Knochen, Muskeln und Sehnen nur darauf gewartet, sich durch einen Unfall bemerkbar machen zu können. Jetzt waren sie alle da und bekundeten ihre Existenz durch Schmerzsignale. Leise sagte sie vor sich hin: »Hallo, Ferse.« Es amüsierte sie, einen Teil ihres Körpers so zu begrüßen. Sie interessierte sich für ihre Ferse nur, weil diese weh tat. Aber wenn sie es sich genau überlegte: Wann dachte sie schon an ihre Zähne, solange sie sich nicht mit Karies meldeten? Ebenso nahm man das Vorhandensein eines Blinddarms nur im Fall einer Entzündung zur Kenntnis. In ihrem Körper mußte es eine ganze Menge Organe geben, von deren Dasein sie nichts 16 wußte, weil sie bisher nie so unhöflich gewesen waren, durch Schmerzsignale auf sich aufmerksam zu machen. Ihr Blick fiel wieder auf den Koffer. Dieses Ding aus dem Innern der Erde faszinierte sie. Sie nahm ihn zur Hand und schüttelte ihn. Das Schloß war mit einer Zahlenkombination aus fünf Zahnrädern gesichert. Der Koffer bestand aus dickem Metall, dem nur eine Bohrmaschine etwas anhaben könnte. Julie betrachtete das Schloß. Jedes Zahnrad war mit Ziffern und Symbolen versehen. Sie spielte auf gut Glück daran herum. Die Chance, zufällig die richtige Kombination zu finden, war vielleicht eins zu einer Million. Erneut schüttelte sie den Koffer. Er enthielt etwas Wichtiges, einen einzigartigen Gegenstand, davon war sie überzeugt, und das Geheimnis spannte sie auf die Folter. Ihr Vater kam mit dem Hund ins Zimmer. Er war groß, fröhlich, rothaarig und trug einen Schnurrbart. In seiner Golfhose sah er wie ein schottischer Jagdhüter aus. »Geht’s dir besser?« fragte er. Sie nickte. »Du bist in eine Schlucht gefallen, zu der man nur durch eine Mauer aus Brennesseln und Dornen gelangt«, erklärte er. »Die Natur hat sie vor Neugierigen und Spaziergängern geschützt. Sie ist nicht einmal auf der Karte eingezeichnet. Zum Glück hat Achille dich gewittert. Was wären wir ohne Hunde!« Er tätschelte liebevoll seinen Irish Setter, der zum Dank einen silbrigen
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Pikaper zahlte der Bardame ein monatliches Gehalt für das Saugen eines Mitglieds
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