Der Ehemann führt den Kopf eines schlaffen Mitglieds an die Lippen der schlafenden

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Der Ehemann führt den Kopf eines schlaffen Mitglieds an die Lippen der schlafenden
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Ludwig Ganghofer: Lebenslauf eines Optimisten. 3 Teile, Teil 3: Buch der Freiheit,
Stuttgart [1909–1911], S. 424-487.
[424] Gehirn? – Das ist ein rätselhafter Gegenstand, den ein Geschöpf in seinem Schädel umschließt, ohne über dieses geheimnisvolle Ding eine für alle Fälle ausreichende Beifügungsmacht zu besitzen. In lachender Ruhe scheinen Gehirn und menschlicher Wunsch sehr treu verbundene Freunde zu sein. Doch in würgenden Augenblicken, die über Glück oder Elend, über Leben oder Tod entscheiden, erweist das Gehirn sich als ein selbständiges Wesen, dem die Herzschläge des Menschen, in dessen Schädel es wohnt, eine fremde und gleichgültige Sache werden. Da kann der Mensch sich in einen schreienden Narren verwandeln – das Gehirn bleibt vernünftig und tut, was richtig und nützlich ist. Wenigstens scheint das bei gesunden Menschen so zu sein. [424]

Wie sich die Sache bei krankhaften Geschöpfen verhält, das weiß ich nicht.
Und damals, als ich am Abend des 8. Dezembers zu Wien diese gelbe, rauchlose Flamme aus dem Bühnengiebel des Ringtheaters in den schwarzen Himmel fahren sah – da wollte mein schreiendes Herz, mein verstörtes Blut und der rasend gewordene Apparat meiner Beine zum Theaterportal und in den Zuschauerraum, in den dritten Rang hinauf in die Theaterloge. Hätte mein vor Angst und Sorge irrsinnig gewordenes Herz seinen Willen durchgesetzt, dann hätt' ich vermutlich ein paar Stunden oder ein paar Tage später als ein schwarzer, unförmlicher Knochenstrunk im Wiener Polizeihof liegen müssen. Doch bevor ich das Theaterportal erreichte, das vor meinen nassen Augen wie in einem kreisenden Nebel zu schwimmen schien, riß das selbständig gewordene Gehirn mich an Herz und Blut und Beinen jäh herum und peitschte mich in eine Seitengasse, zum Bühneneingang. Und schrie mir im tausendsten Teil einer Sekunde zu: »Du Ochse! Noch eine Viertelstunde bis zum Anfang der Vorstellung. Das Mädel ist noch gar nicht in der Loge! Wenn das Mädel schon ins Theater kam, dann ist sie zuerst, wie sie es noch immer tat, in [425] ihre Garderobe gegangen. Wenn sie nicht in der Garderobe ist, dann ist sie noch gar nicht da! Auf die Bühne mußt du, in die Garderobe! In die Garderobe! In die Garderobe!«
Vor dem Bühneneingang in der Heßgasse war Gedräng und Geschrei. Ich wühlte mich durch. Dieser blasse, verstörte Mensch? War das der Portier? Ich packte ihn an der Brust und schrie eine Frage. Er sah mich ratlos an und lallte. Und da war ich schon in dem engen Flur. Kreischende Menschen kamen über die steinerne Treppe heruntergezappelt. Ich rannte hinauf. Zwei steile Treppen. Nun war ich im Garderobengang, sah schwarze Löcher und grellen Schein – und dieses Leere und Stille, das war die Garderobe meines Mädels – noch erleuchtet – die Schminkschatulle stand verschlossen auf dem Tisch, vor der Schatulle lag ein uneröffneter Brief, und neben dem Spiegel hing ein weißes, frischgestärktes Röckelchen, dabei das pfirsichfarbene Kitterl und die schillernde Seidenschürze, die sie im Herrgottschnitzer getragen hatte.
In mir ein Schrei der Freude. »Sie ist noch gar nicht gekommen, noch nicht im Theater!«
Ich reiße die Tür der danebenliegenden Garderobe auf. Auch die ist noch erleuchtet. Und mit [426] seitwärts gestreckten Armen, wie versteinert, steht ein junges Frauenzimmer im Hemd vor mir. Ich schreie: »Jesus, raus da, raus!« Sie kann sich nicht rühren, nur der blasse Mund bewegt sich tonlos. Auf dem Boden liegt ein Pelz. Den packe ich, wickle ihn um das weiße Frauenzimmer und reiße die Eingewickelte mit fort. Irgendwo – auf der Bühne? im Soffittenraum? – hör' ich eine verzweifelt schrillende Weiberstimme. Zur Rechten seh' ich in wogendes Feuer hinein, fühle an meiner rechten Wange eine sengende Hitze – und zwischen unfaßbaren Bildern, die sich in meiner Erinnerung grell oder schwarz durcheinanderwirren, lodert eine rote Hölle mit einer grauenhaften Riesenflamme, die vom Bühnenboden in einer mächtigen Spirale hinaufleckt gegen das Bühnendach. Dann steh ich in grauer Finsternis, muß immer husten, halte das in den Pelz gewickelte Frauenzimmer an mich geklammert, fühle krallende Hände an meinen Armen, an meinem Körper – vier, fünf, sechs Menschen hängen an mir – ich atme einen Dunst, von dem mir übel wird, und nun trinke ich frische Luft und erkenne mit kaltem Schreck, daß ich als Führer dieser sechs, sieben, acht lallenden Menschen die richtige Treppe verfehlte. Statt den Bühnenausgang zu finden, kam [427] ich in einen kellerartigen Hof. In der rauchigen Dämmerung sah ich ein Tor. Das muß auf eine Straße führen. Es ist verschlossen. In der nächsten Sekunde ist es hinausgedrückt. Ich bin auf der Gasse, sehe Menschen laufen, höre Menschen schreien. Die Sechse oder Sieben, die hinter mir waren, rennen davon.
Meine Erinnerung verwirrt sich. Ich sehe kein Zusammenhängendes, nur Abgerissenes, Unsicheres. Mir ist, als trüge ich das Fräulein im Pelz, weil es nur Strümpfe an den Füßen hatte, über die Gasse hinüber, in eine Kutscherkneipe, und lasse die Zitternde auf einen hölzernen Sessel fallen. Ich fühle, daß meine rechte Wange gedunsen ist wie ein gebratener Apfel, fühle an der rechten Hand jedes Härchen wie einen stechenden Schmerz, und sehe, daß der rechte Ärmel meines blauen Anzuges vom Handgelenk bis zur Schulter gelb versengt ist. Dann ist mir wieder, als höbe ich das Fräulein im Pelz in eine Droschke hinein. War's nicht eine Schauspielerin, die Kathi Fischer hieß? Oder war's eine andere? Und dann bin ich auf der Ringstraße, in einem schwarzen Gedränge aufgeregter Menschen. Ich wühle und wühle, aber ich kann nur um wenige Schritte vorwärtskommen. Und die Menschen, zwischen denen [428] ich mich hindurchzwänge, reden mir freundlich zu: ich möchte doch ruhig stehen bleiben.
Dieses Gewühl und Geschiebe von tausend Menschen sieht aus wie musterhafte Ordnung. Wien hat keinen Mob – hatte damals keinen.
Die Flammen des Theaters kann ich nicht sehen, weil ich zu nah am Gebäude bin. Doch bis zur Börse hinunter flackert die Häuserzeile der Ringstraße in grellem Gelb. Und im Gewühl ein eng umdrängter Wagen. In diesem Wagen steht die Frau Jauner. Immer schreit sie: »Mein Mann? Wo ist denn mein Mann? Mein Mann? Mein Mann?« Und da drängt sich Jauner zum Wagen hin, mit kreideblassem Gesicht; seine Stimme hör' ich nicht, sehe nur, wie er mit den Armen fuchtelt. Und dann wird die Menge auseinandergekeilt, Feuerwehrwagen und eine Dampfspritze rasseln in das Gewühl hinein. Vor dem Portal des Theaters schaffen die Polizeileute freien Platz. Und schrillende Stimmen fallen wie schmerzende Steinwürfe aus der Höhe herunter. Dieses Fürchterliche da droben ist in dem Gezitter von zuckender Helle und schwarzen Schatten nicht deutlich zu sehen – und doch so deutlich, daß mir das Herz erstarrt. Aus Fenstern und Mauerluken strecken sich Arme mit gespreizten [429] Fingern heraus, fahle Gesichter sieht man, hört verzweifeltes Geschrei. Und die Loggia über dem Portal und ein Balkon des Theaters ist angefüllt mit hundert kreischenden Menschen, die sich widersinnig bewegen – wie Gespenster, an die man nicht glauben kann. Ein junges Frauenzimmer springt herunter, dann ein Mann, ein zweiter, ein dritter – man hört, wie die fallenden Körper auf das Sprungtuch klatschen. In meiner Erinnerung ist eine Stimme, die immer schreit: »Nur Ruhe, die kommen herunter, die kommen alle herunter.« Leitern werden in die Höhe geschoben, dunkle Gestalten mit blinkenden Helmen klettern hinauf, und droben auf der Loggia sieht es so aus, als schlügen die Menschen, die den Sprung nicht wagten, mit Fäusten aufeinander los.
Immer stärker wird das flackernde Gelb auf den umliegenden Häusern. In der Höhe ein wachsendes Gewirbel von Flammen, Rauch und Dampf. Und aus diesem roten und weißen Gewoge heben sich in schwarzer Ruhe die Götterstatuen des Giebels heraus.
Während die Loggia und jener Balkon sich leeren und die Letzten da droben, die völlig Mutlosen und Verstörten, über die Leiter heruntergetragen oder mit verbundenen Augen in das [430] Sprungtuch geworfen werden, komm' ich dem Kordon der Polizei immer näher. Ich sehe Feuerwehrleute in das Portal stürmen und sehe sie wieder zurücktaumeln. Sie zünden Fackeln an, verschwinden wieder im Portal und kommen wieder heraus, mit erloschenen Fackelstrünken. Und innerhalb des Ringes von Polizei und Soldaten stehen uniformierte Herren in einer Gruppe beisammen. Alle paar Augenblicke kommt jemand zu ihnen gelaufen, macht einen tiefen Bückling und gestikuliert mit den Händen.
Immer wieder, während ich mich vorwärts wühle, frag' ich mit erwürgter Stimme: »Sind noch Menschen im Theater?« Einer zuckt die Achseln, einer schüttelt stumm den Kopf, und einer sagt mir: »Nein, bestimmt nicht, im Theater ist niemand mehr, von der Polizei hat's einer gesagt.« Und dann geht es wie ein glückseliges Schlagwort durch die vieltausendköpfige, plötzlich frohgewordene Menge hin: »Alles gerettet!«
Ein paar Mißtrauische wollen es nicht glauben und fangen in Zorn zu räsonieren an. Ein junger Mensch will den Kordon durchbrechen und wird zurückgestoßen. Er scheint ohnmächtig zu werden. Und dann steht er gegen einen Laternenpfahl gelehnt und streckt die beiden Arme, und wie ein [431] Irrsinniger schreit er immer: »Die Resi ... die Resi ... die Resi ...« Zwanzig, dreißig Menschen reden auf ihn ein und wollen ihn beruhigen: es wäre doch lange schon alles gut, kein Mensch mehr im Theater, alles gerettet. Aber der junge Mensch will nicht hören, immer wieder schreit er: »Die Resi ... die Resi ... die Resi ...«
Nun hör' ich ihn nimmer. Mir ist ein heißer Strom von Freude in der Seele. Alles gerettet! Doch plötzlich klammert sich eine grauenhafte Angst um mein Herz – zwischen den Polizeileuten und Soldaten seh' ich eine junge Person; ihre Kleider sind verwüstet, ihr Gesicht ist verzerrt, die Augen sind vorgequollen; wie eine Tobsüchtige gebärdet sie sich. Immer schreit sie: »Licht! Laternen! Licht! Laternen! Da drin ist alles finster! Licht! Laternen!« Man redet gütlich mit der Tobenden, ein Offizier beschwört, daß alles gerettet wäre. Mit zuckenden Händen greift sie nach ihm und reißt an seiner Uniform. Ihre Stimme wird wie dünnes Kindergeschrei: »Laternen! Licht! Alles ist finster! Tausend Menschen sind noch drin. Sie ersticken, erwürgen sich, verbrennen! Licht! Laternen! Meine Mutter, mein Bruder, meine Schwester! Alle ersticken und verbrennen!«
Aber man weiß doch, daß alles gerettet ist. [432]

Und man nimmt das grillende Frauenzimmer für eine Hysterische, die ihren Anfall bekam. Man wird heftig gegen sie, man droht ihr mit der polizeilichen Sistierung.
Vor meinen Augen schwimmt es, mir wird ein bißchen übel, und plötzlich spüre ich wieder jenen merkwürdigen, abscheulichen Dunst, den ich da drin zwischen Helle und Finsternis verschlucken mußte. – Meine Erinnerung wird wieder unsicher, die Bilder gleiten unfaßbar durcheinander. Und dann steh ich in einem offenen Fiaker, der über die Ringstraße gegen die Oper hinunterjagt. Ich hänge mit der linken Hand an den Kutschbock geklammert, und mit der rechten Faust schlage ich immer auf den Rücken des jungen Fiakers los und schreie: »So fahren Sie doch! Herrgott! Ein Wiener Fiaker! Und kann nicht fahren!« Der Kutscher beugt sich nach vorne und peitscht auf die galoppierenden Pferde los. Und ich kreische immer wieder: »Nibelungenstraße!« Nun hält der Wagen. Ich keuche: »Warten!« Ich reiße an einer Glocke, taumle in den Flur, rase über drei Treppen hinauf – von droben schreit die Köchin herunter: »Was is denn? Was is denn?« – und als ich hinaufkomme, atemlos, hör' ich die Köchin in der Wohnung zetern: [433]

»Fräuln Thinka, Marand Josef! Fräuln Thinka! Da muß was gschehgn sein! Der Herr Dokter! Über d' Stiegen kommt er auffi wie a Narr. Und hat ka Hütl und hat gar nix! Und schnaufen tut er, und auffi rennt er wie a Verruckter!«
Ich stehe unter der Tür und muß mich halten, weil meine Knie mich nimmer tragen wollen. Und da kommt aus der Kinderstube mein liebes Mädel her aus, in einem hellen Hauskleidl, mit erschrockenem Gesicht. Ich brülle in meiner Freude, in meinem Glück, und springe auf das Mädel zu, reiße die Erschrockene an mich, und lache und weine – und küsse, küsse, küsse, was mein Mund zu erwischen vermag. Immer wehrt sie sich; immer stammelt sie: »Jesus, Jesus!« Und da bring ich es, zwischen Lachen und Küssen, mit Lallen heraus. »Das Ringtheater brennt!« Und nun scheint das Mädel zu ahnen, aus welchem Schreck und Grauen ich komme. Sie zittert, die blauen Augen werden groß, ihre Arme klammern sich um meinen Hals – und wir beide sind verbunden und aneinandergewachsen fürs Leben.
Sie wollte ins Theater. Doch die zwei kleinen Neffen mit der halbkurierten Halsentzündung bettelten: »Bitt schön, Tante Thinkerl, erzähl uns ein Märchen.« Und da dachte sie: »Den Doktor [434] Ganghofer seh ich morgen auch wieder, aber die Kinder sind heute krank.« Und so blieb sie bei den zwei Buben daheim und erzählte ihnen das Märchen vom kleinen Däumling, der vier große Geschwister hatte.
Das erfuhr ich erst viele Tage später. Damals, an jenem Abend, als ich im Hausflur mein liebes, lebendiges Mädel unter Lachen und Keuchen umklammert hielt, fanden wir kein Wort und keine Frage. Und dann rasselte die Klingel wie verrückt, die Köchin rennt auf die Stiege hinaus, und aus der Tiefe des Treppenhauses schrillt eine Stimme herauf: »Ist der Herr daheim? Und die Frau? Und das Fräulein Thinka? War niemand im Ringtheater?« Zur Antwort schreit die Köchin, was ich nicht verstehe. Etwas Graues schwimmt vor meinen Augen, und die zwei herzförmigen Gasflammen des Flures werden so groß wie Wagenräder. Mein Mädel stammelt: »Um Gotteswillen!« Und rennt davon und bringt mir ein Glas Wasser. Während ich den Trunk hinunterstürze, belfert die Klingel wieder. Und tief drunten im Treppenhaus eine brüllende Stimme: »Ist die Thinka daheim?« Die Köchin zetert: »Ja, ja, ja!« Aber der Neugierige da drunten kann's nicht glauben und schreit: »Ist sie nicht [435] im Theater? Gewiß nicht?« Ich weiß noch: das war der Bruder meines Mädels. Dann ist in meiner Erinnerung wieder ein Riß. Ich weiß nimmer, wie und wann ich auf die Straße hinunterkam – weiß nur noch, daß mein Fiaker, den ich noch nicht bezahlt hatte, nimmer vor dem Haustor stand. Irgendeiner, den die Sorge peitschte, hatte ihn mir weggenommen.
Ich rannte gegen die Ringstraße. Fiaker und Droschken sausten an mir vorüber. Überall sah ich Leute laufen. Bald hier und bald dort vor einem Haustor blieb einer stehen und riß an der Glocke. Und wenn sich droben ein Fenster auftat, schrie er hinauf: »Ist alles daheim? War niemand im Ringtheater?« In zwei oder drei Minuten sah und hörte ich das ein Dutzendmal. Und dann auf der Ringstraße, in der Nähe des Rathauses geriet ich in ein schwarzes Zuströmen von tausend und tausend Menschen. Hier sah es aus, als hätten die Wiener in dieser Nacht nur einen Weg. Beim Schottentor ein Meer von Köpfen, alle scharf beleuchtet. Das Parlament, die Universität, die schlanken Silbertürme der Votivkirche und die Zinskasernen des Schottenringes glänzen grell im Widerschein des großgewordenen Feuers, das schon den ganzen Dachstuhl [436] des Theaters verzehrt hat. Und immer wieder, jäh, erlischt diese Helle, wenn Rauch und Dampfwolken die Flammen umschleiern.
Ein Schreck, der nur leise redet, ist in den Menschen. Sie sagen, man hätte Leichen im Theater gefunden, viele, hundert, fünfhundert, tausend.
Es treibt mich vorwärts. Und je näher ich dem Theater komme, umso ruhiger steht die Menge. Ich höre nur selten ein Wort. Und immer wieder seh' ich einen, der die Hände vor den Augen hat. Weint er? Oder hält er sich nur die Augen zu, um das schreckliche Schattenspiel nicht sehen zu müssen, das da drüben vor dem Portal des Theaters gaukelt, auf dem freien Platz, der von Polizei und Militär umschlossen ist?
Immer muß ich mich vorwärtswühlen. Und so dicht die Menge auch steht, immer sind' ich einen Weg. In meinem Gesichte muß etwas sein, was zu diesen dicht aneinandergekeilten Menschen redet. Immer ist eine Gasse vor mir, immer hör' ich die Leute sagen: »Durchlassen! Durchlassen!« Nun steh' ich vor dem abgegrenzten Raum. Feuerwehrleute und Polizeimänner tragen dunkle, regungslose Körper aus dem Portal heraus. Ich sehe vier, die einen Klumpen von drei unlösbar ineinander verkrampften Toten schleppen. Leute aus der Menge, [437] Offiziere, Arbeiter, elegant gekleidete Herren durchbrechen den Kordon, um tragen zu helfen. Und die Träger, die aus dem Theater kommen, haben lallweiße Gesichter; in ihren Augen irrt das Entsetzen, das sie vor diesen fürchterlichen Todesbildern in den Korridoren und auf den Treppen des Theaters erfaßte.
Neben mir drängt sich eine junge Frau durch den Kordon, weil sie helfen will; sie spricht gebrochenes Deutsch, man rät auf eine Russin.
Dumpfes Aufschluchzen und heiseres Atmen in der Menge, so oft wieder eine solche Karawane von Trägern mit diesen dunklen Paketen aus dem Theater kommt.
Ein Feuerwehrmann und ein halbwüchsiger Bursch in kurzem Sakko tragen einen schlanken Menschen in weißer Weste vorüber – und der junge Bursch, der da helfen wollte, scheint seine Kraft überschätzt zu haben. Er droht zu taumeln. Und stammelt: »Ich kann nimmer, ich muß auslassen.« Da muß ich mich durchdrängen, springe hin und helfe tragen. Es ist ein Vierundzwanzigjähriger, den wir zum Polizeigebäude hinüberschleppen. Er hat nur eine kleine rote Schürfwunde an der linken Wange. Sonst scheint er völlig unverletzt. Die Augen sind geschlossen, das [438] blasse magere Gesicht ist ruhig. Wie ein Schlafender si
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