Annexion als Ziel

Annexion als Ziel

Tierarzt Dirk Schrader

Palästina: Israels Rechtsaußenregierung steigert Gewalt in besetzten Gebieten und Gaza.

Von Helga Baumgarten, Jerusalem 

Seit 1967 müssen die Palästinenser unter einem Besatzungsregime leben, das von der israelischen Armee aufrechterhalten wird. Inzwischen sind sie mit immer fanatischeren Siedlern konfrontiert. Diese Siedler meinen, dass ihnen das gesamte historische Palästina vom Mittelmeer bis zum Jordanfluss von Gott versprochen sei. Für die Palästinenser sei dort kein Platz. Inzwischen gerieren sie sich als Kolonialherren, die den Willen Gottes, wie sie ihn interpretieren, mit immer mehr Gewalt gegen die Palästinenser durchsetzen. Dörfer werden angezündet, Menschen zusammengeschlagen und erschossen, Moscheen entweiht und geschändet, Korane werden zerrissen und angezündet. Die Siedler verüben ihre Gewalttaten fast immer unter dem Schutz der Armee, die sich oft aktiv an der Gewalt gegen die Palästinenser beteiligt. Dabei setzt die Armee, zuletzt in Dschenin vor einer Woche, wieder Kampfhubschrauber und bewaffnete Drohnen ein, zum ersten Mal seit der zweiten Intifada. 

Diese Besatzungsgewalt ist nicht neu und unter allen israelischen Regierungen, egal welcher Couleur, zu beobachten. In der Altstadt Jerusalems wurde direkt nach dem Junikrieg 1967 das historische Maghrebi-Viertel dem Erdboden gleichgemacht. Kein Haus blieb stehen, selbst eine Moschee wurde zerstört. Die Bewohner, an die tausend Menschen, wurden vertrieben. 

Langer Krieg 

1970/1971 schlug Ariel Scharon im Gazastreifen regelrechte Schneisen in die dortigen Flüchtlingslager, um breite Straßen für seine Panzer zu bekommen. Die aus Israel 1948 vertriebenen Palästinenser, die dort überleben mussten, verloren zu Tausenden ihre ärmlichen Behausungen und wurden erneut vertrieben in Richtung Sinaihalbinsel. Die jungen Palästinenser, die Widerstand geleistet hatten, wurden in neuerrichteten Lagern ebenfalls auf der Sinaihalbinsel festgehalten. 

1994, in den ersten Monaten des von vielen mit Optimismus begrüßten Osloer Prozess, der im September 1993 eingeleitet worden war, verübte der Siedler Baruch Goldstein, ein aus den USA eingewanderter Arzt, ein Massaker mitten in der Ibrahimi-Moschee in Hebron an betenden palästinensischen Gläubigen. Er erschoss 29 Menschen und verwundete mehr als 100. Die Armee stellte die Palästinenser in Hebron, die Opfer, für einen Monat unter Ausgangssperre. Die Siedler durften sich dagegen frei bewegen. Goldstein war Anhänger des extrem rechten Rabbis Meir Kahane – genau wie der heutige Minister für nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir. 

Schließlich läuft seit 2006/2007 der „lange Krieg gegen Gaza“, wie ich ihn nenne. In diesem Krieg gegen Menschen in Gaza und ihre gesamte Gesellschaft zerstört die israelische Armee gemäß der sogenannten Dahija-Doktrin in regelmäßigen Abständen in tage- oder wochenlangen Angriffen, was ihr in den Weg kommt. 

Sinnlose Massaker 

Weder während des Osloer Prozesses seit September 1993 noch beim „Camp David II“ genannten Treffen Jassir Arafats mit Ehud Barak 2000 noch als Reaktion auf den arabischen Friedensplan 2002 signalisierte Israel jemals Bereitschaft, mit den Palästinensern Frieden zu schließen, basierend auf gegenseitiger Anerkennung. Der ehemalige katholische Patriarch Michel Sabbah brachte es 2014 auf den Begriff: „Was in Gaza passiert, ist kein Krieg, es ist ein Massaker. Ein sinnloses Massaker, denn es bringt Frieden und Sicherheit für Israel keinen Schritt näher. (…) Der einzige Weg heraus ist die Anerkennung des zugrundeliegenden Problems, nämlich der Besatzung. (…) Frieden wird es erst geben, wenn Israel einen freien und souveränen palästinensischen Staat anerkennt. (…) Die jetzige Führung glaubt nur an militärische Macht und Stärke. Sie haben hochentwickelte Waffen, um zu töten. Aber sie haben keine Bereitschaft, Frieden zu schließen. Dazu bringen sie keinen Mut auf.“

Michel Sabbah könnte heute genauso argumentieren wie 2014. Hat doch der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu gerade gefordert, den Palästinensern die Idee eines palästinensischen Staates auszutreiben und ihr Streben danach zu „eliminieren“. 

Terror und Gegenterror 

Schon nach dem Krieg 1967 konnte jeder, der Augen hatte, erkennen, wohin die Besatzung führen würde. Die sozialistische Organisation Matzpen in Israel hat das im September 1967 laut Haaretz auf den Begriff gebracht: „Unser Recht auf Schutz vor Vernichtung gibt uns nicht das Recht, andere zu unterdrücken. Besatzung führt zu Fremdherrschaft. Fremdherrschaft führt zu Widerstand. Widerstand führt zu Unterdrückung. Unterdrückung führt zu Terror und Gegenterror. Terroropfer sind für gewöhnlich unschuldige Menschen. Das Festhalten an den besetzten Gebieten wird uns in ein Volk von Mördern und Ermordete verwandeln. Für einen sofortigen Abzug aus den besetzten Gebieten.“ 

Netanjahus Ziel ist heute die Annexion der 1967 besetzten Gebiete mit der damit einhergehenden schrittweisen „Eliminierung“ seiner palästinensischen Bewohner, sei des durch Vertreibung oder Vernichtung. Sein Minister Ben-Gvir ruft inzwischen dazu auf, Dutzende, Hunderte, wenn nötig Tausende Palästinenser zu töten. Von der sogenannten internationalen Gemeinschaft hört man kritisch-tadelnde Worte, denen keine Taten folgen.

Eine Ausnahme sind die klaren Worte von Sven Kühn von Burgsdorff, EU-Vertreter in Israel, der die Angriffe der Siedler auf das Dorf Turmus Aja als Terrorismus benennt und ein Ende der Besatzung fordert. Die Palästinenser bleiben derweil konfrontiert mit einem Staat, der auf Siedlerkolonialismus basiert – einem Apartheidstaat. Von ihm wollen sie sich endlich befreien. 

Wie vom Wahnsinn diktiert 

Israelische Ultrarechte treibt Siedlungsbau voran und plant Teilung des „Tempelbergs“ 

Vor dem Beginn des Osloer Prozesses 1993 lebten in den 1967 besetzten Gebieten etwa 115.000 illegale Siedler. Eine Zweistaatenlösung als Basis für eine Friedenslösung setzte voraus, dass die israelische Regierung ihre Siedlungspolitik sukzessive reduzieren, zumindest aber keine weiteren Israelis dort ansiedeln würde. Die israelische Politik ging aber in die direkt entgegengesetzte Richtung: Im Jahr 2000 betrug die Zahl der Siedler knapp 200.000. Heute gehen die Statistiken von etwa 465.000 bis 500.000 Siedlern in der Westbank sowie 230.00 bis 250.000 Siedlern in Ostjerusalem aus. 

Direkt nach dem Junikrieg 1967 forderte der ehemalige Premierminister und hochgeachtete „Elder Statesman“ David Ben Gurion den Bau von Siedlungen in den besetzten Gebieten. Ein groß angelegter Plan für die israelische Siedlungspolitik entstand unter der Ägide von Shimon Peres, damals Parteisekretär von Rafi, schon im September 1967. Sowohl Ben Gurion als auch Shimon Peres musste klar sein, dass der Bau von israelischen Siedlungen internationales Recht verletzte. Israel versucht diese Bestimmungen zu umgehen, indem man die israelische Besatzung zu einer „Belligerent occupation“ machte, für die die Genfer Konvention, so das Argument, nicht gelte. 

Heute ist das Ziel der extrem rechten Siedler, angeführt von den Ministern Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir die Zahl der Siedler auf eine Million zu erhöhen. Die Grundlage für die Umsetzung dieses Ziels gab die Regierung unter Benjamin Netanjahu gerade jetzt mit ihrer neuen Politik einer extrem vereinfachten Genehmigung von Siedlungsexpansion sowie zur Legalisierung der „Outposts“. 

Jerusalem und der Haram Al-Scharif, der Tempelberg, wie ihn Juden und Christen nennen, bilden dabei ein Ziel. Die Regierung Netanjahu erteilt neue Genehmigungen zur Expansion von Siedlungen in Ostjerusalem. Zur Zukunft des Haram Al-Scharif kursieren derzeit Ideen, zuerst von einem Likud.Abgeordneten in die Debatte geworfen, dass der Haram analog der Ibrahimi-Moschee in Hebron geteilt werden soll: 70 Prozent sollen an die Juden gehen, für die Muslime bleiben lediglich 30 Prozent übrig. Jeder, der die Situation in Jerusalem kennt und weiß, welche zentrale Rolle der Haram Al-Scharif für Muslime generell und für Palästinenser im besonderen spielt, denkt, dass nur ein Wahnsinniger solche Ideen vorschlagen kann.



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