Alles, was Sie über die Ukraine wissen wollten, aber Angst hatten zu fragen
vertrieben durch @marcelsardoRede der ehemaligen „Maidan-Poetin“, Jewgenia Biltschenko, zu Europa im Kongresshaus der tschechischen Hauptstadt Prag
Guten Tag, sehr geehrte Europäer!
Guten Tag, sehr geehrte Europäer! An Sie wendet sich eine Person, die in ihrem Land als „Maidan-Poetin“ bekannt war. Die Poetin der sehr tragischen Ereignisse, die Hunderte und Tausende Menschen im ganzen Land das Leben kosteten – angefangen vom „Himmels-Hundert“ und bis zu Odessa und der Donbass-Region. Mein Gedicht „Wer bin ich?“ über die Menschen, die auf dem Platz der Unabhängigkeit ums Leben gekommen waren, wurde in sozialen Netzwerken verbreitet und in insgesamt 27 Sprachen übersetzt, selbst in irgendwelche afrikanische Sprache. Es soll sogar die Hymne von liberalen Revolutionen in verschiedenen Ländern der Dritten Welt geworden sein. Aber womit beschäftige ich mich jetzt? Ich vernichte die Reposts dieses Gedichts, damit „Spezialisten für Katastrophen-Kapitalismus“ im Westen mein Blut und meine Tränen nicht mehr ausnutzen können. Ich trage die Mitschuld daran, dass das aufrichtige Elan ukrainischer Menschen, ihr Drang gegen die Ungerechtigkeit von den proamerikanischen Kräften auf furchtbarste Weise ausgenutzt wurde, so dass es zum Bürgerkrieg, zu Zerstörungen und zum Neonazismus gekommen ist.
Sie glauben nicht daran, weil russische Zeitungen darüber schreiben? Das ist Ihr gutes Recht. Aber ich kann Ihnen darüber erzählen – als Person, die freiwillig in diesen Krieg gezogen war und den Soldaten der ukrainischen Freiwilligen-Bataillone half. Schon auf dem Maidan sah ich, dass die Proteste der Menschen von liberal-nationalistischen Kräften ausgenutzt wurden, doch ich hatte Angst, mir selbst das zuzugeben. Neben vielen anderen jungen ukrainischen Romantikern, die an die Propaganda geglaubt hatten, wurde ich auch Volontärin – ich war mehrmals an der Front und besuchte verschiedene Krankenhäuser. Unter den Kämpfern, denen ich half, gab es auch Mitglieder der in Russland verbotenen Organisation „Rechter Sektor“. Der Krieg ist ein Fehler des ganzen Lebens, er ist „riesig, wie die Himalaya“, wie Mahatma Gandhi sagen würde. Dennoch konnte ich dabei mit meinen eigenen Augen die Wahrheit sehen und darüber sprechen, indem ich mich jetzt auf meine eigenen Erfahrungen stütze – und nicht auf mediale Klischees. Als Volontärin besuchte ich solche Städte wie Rubeschnoje, Sewerodonezk, Lissitschansk, die offene Front bei Slawjansk und Donezk. Was ich dort gesehen und erfahren habe, hat mich erschüttert. Ich verstand, dass die Ukraine einen Bürger- und Hybridkrieg gegen die eigene Bevölkerung führt. Alles, wofür wir mit Studenten und Soldaten kämpften, was wir sentimental idealisierten, alles, was wir uns selbst nicht zugeben wollten – das alles vernichtet jetzt uns selbst. Und wenn wir (auch ich) einen solchen Gewaltakt quasi verdient haben, haben unsere friedlichen Menschen, unsere Mitbürger, die Einwohner von Donezk und Odessa gar nicht verdient, die jetzt aber emigrieren müssen – ob nach Europa oder nach Russland. Und viele von ihnen, darunter kleine Kinder, liegen jetzt in der Erde.
Kurz und knapp, ist aus der einstigen „Maidan-Dichterin“ jetzt eine Dissidentin geworden, die auf der Website „Mirotworez“ erwähnt ist und inzwischen in ihrer Heimat marginalisiert wird, die keine Möglichkeiten mehr bekommt, ihre Meinung zu äußern, und Empörung der so genannten „Hurra-Patrioten“ hervorruft. Einer noch größeren Verfolgung wurde ich in Russland ausgesetzt, nachdem ich ihm meine Liebe erklärt und über meine Enttäuschung über den ukrainischen Nationalismus geäußert hatte. „Feinde kann Russland anerkennen, aber keine Verräter“ – das wollten mir meine Opponenten sagen. Der Informationskrieg, in den die slawische Gesellschaft getrieben wurde, ist die beiden Länder, die einst Freunde waren, einander „dehumanisieren“. Ich habe in einem gewissen Sinne habe ich das „Feindes“-Stereotyp zerstört und Russland gezeigt, dass nicht alle Ukrainer, die einst an die Ideale des „Maidans“ glaubten, hoffnungslose Fanatiker sind, dass sie über die ideologische Psychose enttäuscht werden können, dass sie das bereuen können. Russischen radikalen Ukraine-Hassern gefiel das aber nicht, und sie begannen unter dem provokanten Mem „Russland verzeiht nicht!“ die entgegengesetzte Hetze, wodurch sie eine Art „Feilbank-Effekt“ schufen – oft auf Kiews ungewollte „Vorlage“.
Aber wer bin ich denn? Ich bin ein Nobody, ein kleines Splitter, der ewige Dritte im abgestimmten Spiel der „Unseren“ und „Fremden“, das einst mit dem Ziel begann, die osteuropäische Welt zu schwächen. In diesem Spiel soll man die Feindestestalten aufrechterhalten, denn sonst würde diese ganze Matrix zusammenbrechen – und deshalb darf man keine Vermittler und Friedensstifter zulassen. Und die Hauptfrage, für die man sogar hinter Gittern landen kann, ist nicht mit den Rechten der sexuellen Minderheiten oder der Bäume, sondern mit dem Krieg verbunden. In der Ukraine wurde Russland zum „Aggressor“ abgestempelt, obwohl es keine Beweise für die Präsenz russischer regulärer Streitkräfte im Donezbecken gibt. Und in Russland sowie unter den „Anti-Maidan-Kräften“ wird immer über den „Bürgerkrieg“ in der Ukraine geredet – und behauptet, dass es dort keine russischen Kräfte gibt. Das Volksheer glaubt, dass es dort russische Freiwillige gibt, die bis zum Ende kämpfen werden. Und jeder wird gefragt: „Auf welcher Position stehst du?“ (sprich „Wem gehört die Krim?“) – und dann kann man ihn leicht verfolgen und physisch oder auch moralisch vernichten – für die Äußerungen auf Facebook, was man mit dem „Gewissenshäftling“ Ruslan Kozaba tun wollte. Es ist sehr schmerzhaft, Grenzen zu verletzen – und dafür musste ich mit meiner absoluten Einsamkeit und meinem doppelten Dissens zahlen. Ich wollte von politischen Ideologien zum geistigen Leben rücken, aber ich ließ mich in Politik einbeziehen, die mir aber generell widerlich ist. Denn ich bin Dichterin.
Von Beruf, der mir ein geringes Einkommen von 200 Dollar pro Monat bringt, bin ich Professorin, Dozentin und Lehrerin, habe den Doktortitel in Kulturwissenschaften. Ich bin Autorin von etwa 200 veröffentlichten Forschungsarbeiten, darunter von drei Monografien und 17 poetischen Büchern. Meine ersten wissenschaftlichen Schritte waren mit der Erforschung der Kultur der Alten Rus und der orthodoxen Philosophie verbunden. Meine weiteren Studien widmete ich dem Dialog zwischen dem Westen und dem Osten in der globalen Welt sowie den Mechanismen zur Überwindung der Gestalt der „Fremden“. Jetzt beschäftige ich mich mit dem Antiglobalismus, mit den neuen Linken und der Theorie der „bunten Revolutionen“. Als Schriftstellerin begann ich in der Umgebung der nonkonformistischen Boheme – wir ließen uns von den Hippie-Idealen, vom russischen Rock, vom Buddhismus und dem Postmodern inspirieren. Dabei wurde ich in einer orthodoxen Kirche getauft. Und mein Postmodern stört nicht meine Traditionalität – genauso wie früher die Unterschiede zwischen den ost- und westukrainischen Ansichten die Ukrainer gar nicht störten, denn niemand versuchte, diese Unterschiede künstlich noch tiefer zu machen und diese oder jene „ethnischen“ oder „europäischen“ Schablonen zu schaffen. Und während ich einen großen Teil meiner Jugend in der Westukraine, nämlich in Iwano-Frankowsk, verbrachte, wurde ich mit meinem ersten großen Literaturpreis bei einem internationalen Festival in Donezk ausgezeichnet. Und mein eigenes Schicksal wurde in einem gewissen Sinne zu einer Art Modell der historischen Ost-West-Wahl der Ukraine und zum Lackmustest für Nationalisten aller Arten.
Ich bin jetzt Preisträger von zwei internationalen Friedenspreisen, aber je länger ich mich mit der Friedensstiftung befasse, desto mehr hassen wütende Menschen in der Ukraine, im Donezbecken und in Russland einander. Alles, was ich und meine Gleichgesinnten wollen, wird zum Gegenteil. Auf dem Maidan wollten die Ukraine die Freiheit und den Menschenrechtsschutz – aber daraus entstand eines der am wenigsten freien Länder der Welt. Im Krieg dachten die Ukrainer, sie würden die friedliche Bevölkerung vor dem „Aggressor“ schützen, aber es stellte sich heraus, dass sie in Wahrheit Nationalisten halfen, diese friedliche Bevölkerung zu töten. Die Reue und die Wendung an die Welt führte nicht dazu, dass die beiden Seiten ihnen den Verrat vorwerfen würden. Die gespaltene russisch-ukrainische bzw. ukrainisch-russische Welt der gemeinsamen sowjetischen Kindheit brach auf einmal zusammen, während zahlreiche Spießbürger im Internet sich darüber freuten, und ihre Bosse in Übersee nur ironisch zuschauten und schwiegen.
Es wurde allmählich klar, dass der Westen, für den viele Menschen ihr Leben auf dem Maidan lassen mussten, nicht nur keine wesentlichen Schritte gegen den tobenden ukrainischen Nationalismus unternimmt, sondern diesen Nationalismus sogar toleriert, obwohl die Idee einer monoethnischen Nation der globalen und multikulturellen Welt der europäischen Konventionen nicht entspricht. Doch das ist nur der äußere Aspekt. Dieses Spiel ist sehr gut bedacht. In Wahrheit bietet die globale Welt der Ukraine nichts außer der Wahl zwischen dem klassischen und dem liberalen Faschismus, wobei das Ziel verfolgt wird, Russland zu schwächen. Der Amerikanismus wendet in Bezug auf die Ukraine nicht nur Doppel-, sondern sogar Trippelstandards an, denn zunächst nutzte er den Nationalismus aus, um die Macht zu ergreifen, indem er ihn mit sentimentalem patriotischem Unsinn „schmückte“, und dann utilisierte der Amerikanismus den Nationalismus und bot sich selbst als Alternative an. Wer nicht zwischen der Geldbörse und dem Leben wählen will, riskiert, beides zu verlieren.
Ich frage dich, Europa: Willst du ein lokaler „Übersetzer“ des globalen Amerikanismus sein und warten, dass dieselbe Welt auch zu dir kommt? An den „Samtenen Revolutionen“ gibt es nichts Schönes – außer der Herzen der ersten Menschen, die auf den Platz kamen und ihr Leben auf den Altar der Interessen verschiedener Oligarchen opferten und die ich keineswegs vergessen oder verraten kann: Mir bleibt es nur, die Schuld an ihrem Tod zu übernehmen. Die Welt, verzeihe es uns. Donbass und Odessa, verzeiht es uns – wir wussten nicht, was wir taten, und nur im Gottesreich ist das Unwissen ein mildernder Umstand.
Heute stehe ich vor Ihnen in kalter Verzweiflung – als Person, die beide Heimaten verloren hat: die ethnische Ukraine und das geistige Russland. Als Person, die ihre beiden Heimaten verliert, aber weiterhin liebt und dabei auf keine Hilfe wartet, denn die objektiven Prozesse der Zerstörung der gemeinsamen geistigen Kindheit in beiden dissidentischen Küchen lassen sich nicht mehr stoppen. Der Zusammenbruch des sowjetischen Modells löste die Schrecken von einzelnen nationalistischen Modellen aus. Lassen Sie mich die Worte Milan Kunderas umformulieren: Die Vergangenheit zu jagen, ist genauso wie eine nach oben fahrende Rolltreppe herunter zu laufen. Es bleibt nur noch, nach oben zu gucken und der Apokalypse, die am Ausgang steht, ins Gesicht zu schauen.