1. Juli. Die Lage im Donbass, am südwestlichen Ufer des Dnipro und bei Charkiw: Wo steht der Krieg und was können wir tun?

1. Juli. Die Lage im Donbass, am südwestlichen Ufer des Dnipro und bei Charkiw: Wo steht der Krieg und was können wir tun?

Nico Lange
Alle Karten von Nathan Ruser.

01.07.2022 09:00

Der Frontverlauf veränderte sich in den vergangenen Wochen nur wenig. Die von unaufhörlichem Artilleriebeschuss getriebene russische "Feuerwalze" rollt im Donbass weiter sehr langsam voran, doch es sind sehr zähe und sehr verlustreiche Kämpfe.

Russland konzentriert im Donbass die Angriffe auf den Versuch einer Umfassung von Lyssytschansk von Südosten und Nordwesten. Nach schweren Verlusten in Sjewjerodonezk versuchen es die russischen Kräfte jetzt mit einer weniger frontalen Vorgehensweise.

Die Ukrainer hatten Sjewjerodonezk als "Falle" genutzt, um die russischen Kräfte in urbanes Gebiet zu ziehen und damit ihre Unterlegenheit auf dem offenen Feld auszugleichen. Russland erlitt schwere Verluste und zahlte einen extrem hohen Preis für wenige Kilometer Landnahme.

Beim taktischen Rückzug aus Sjewjerodonezk gelang es den Ukrainern jedoch nicht, neue Verteidigungspositionen am anderen Ufer des Flusses Siwerskyj Donets auf der Anhöhe von Lyssytschansk aufzubauen und das Vorgehen von Sjewjerodonezk zu wiederholen.

Die Russen umgingen Lyssytschansk sowohl südöstlich als auch nordwestlich und überquerten an mehreren Stellen den Siwerskyj Donets. Es hat derzeit den Anschein, dass die Ukraine Lyssytschansk zügig aufgeben muss, um die eigenen erfahrenen und kampfstarken Truppen zu retten und in Richtung Bachmut, Kostiantyniwka, Kramatorsk und Slowjansk zurückzuziehen. Die Russen haben die dafür sehr wichtige Straße zwischen Lyssytschansk und Bachmut bereits in Reichweite und bedrohen damit diesen Rückzug.

Der Ukraine gelang es zuletzt, gezielt Führung und Kommunikation, Munitions-, Treibstoffdepots und Logistik der russischen Seite zu treffen. Vor allem Gefechtsstände, Stäbe und Munitionsdepots wurden systematisch unter Feuer genommen, teilweise bis zu 50 km hinter der Front.

Daran zeigt sich: Dort, wo die Ukraine weitreichende 155mm Artillerie, vor allem polnisch-koreanische AHS Krab, französische CAESAR und norwegische M109, seit kurzem auch PzH 2000 und MLRS wie HIMARS und Mars II einsetzen kann, verändert sich die Konstellation.

Russlands Artilleriebeschuss wurde nach dem Ausschalten der Munitionsdepots zunächst spürbar geringer. Die russischen Streitkräfte verlegten Führungseinrichtungen weiter zurück ins russisch kontrollierte Hinterland und reagierten damit auf die neuen Reichweiten der Ukrainer.

Mit dem ukrainischen Rückzug aus Sjewjerodonezk und der laufenden Umfassung von Lyssytschansk schaffen die Russen die Voraussetzungen für einen Angriff auf den Raum Slowjansk (110.000 Einwohner), Kramatorsk (160.000), Kostiantyniwka (70.000) und Bachmut (75.000).

Die russische "Feuerwalze" rollt auf einen Raum mit 400.000 Einwohnern zu. Slowjansk und Kramatorsk waren Ausgangspunkt des Kriegs im Donbass 2014. Die Städte haben hohen Wert für beide Seiten und wurden nach der Rückeroberung 2014 von den Ukrainern zu Festungen ausgebaut.

Eine Schlacht um Slowjansk, Kramatorsk, Kostiantyniwka und Bachmut könnte aufgrund der dort seit acht Jahren stark ausgebauten ukrainischen Stellungen mehrere Monate dauern. Es scheint derzeit keinesfalls sicher, dass Russland diese Schlacht gewinnen kann.

Am südwestlichen Ufer des Dnipro zwischen Mykolajiw, Kriwoj Rih und Cherson gibt es wenig Bewegung. In der weiten Steppe können beide Seiten bestenfalls lokal und kurzzeitig Übergewichte für Angriffe bilden.

Die Ukraine ist noch nicht genug mit gepanzerten Fahrzeugen und Kampfpanzern ausgerüstet, um einen aussichtsreichen Gegenangriff in Fluss Dnipro zu beginnen. Zweifellos besteht aber das Ziel, die Russen dort im ersten Schritt auf das östliche Ufer des Dnipro zurückzudrängen.

Seit einigen Wochen intensivieren sich Aktivitäten von Partisanen im besetzten Teil der Südukraine, vor allem in Cherson und Melitopol mit nächtlichen Überfälle auf russische Patrouillen, Sprengungen von Fahrzeugen, Anschlägen auf Kollaborateure und subversiven Plakaten.

Die Kooperationsbereitschaft der ukrainischen Bevölkerung mit den russischen Besatzern ist vor allem in Cherson und Melitopol extrem gering. Russland kann sich im Süden der Ukraine bisher nicht konsolidieren. Die Ukraine sammelt Kräfte für einen Gegenangriff.

Nördlich von Charkiw verstärkte Russland die Angriffe zuletzt wieder. Die Ukraine hat den Zugang zur Staatsgrenze wieder verloren. Der russische Beschuss reicht bis an Randgebiete von Charkiw und weitere Ortschaften.

Die russischen Aktivitäten nördlich von Charkiw binden erhebliche ukrainische Kräfte. Gleichzeitig haben die Ukrainer nicht ausreichend gepanzerte Fahrzeuge und Kampfpanzer, um mit einer Offensive das Gebiet vollständig zu befreien.

Belarus bleibt weiterhin ein aktiver Faktor in Russlands Krieg gegen die Ukraine. Zuletzt lieferte Belarus mehrere Züge mit Munition für die russische Artillerie und Raketenartillerie an die Front im Donbass.

Belarussische Kräfte und Spezialkräfte üben weiterhin im Norden der Ukraine und binden dort damit signifikante ukrainische Kräfte, da ein Einmarsch weiterhin nicht ausgeschlossen werden kann.

n den letzten Wochen flog Russland erstmals mit Tu22M-Bombern über belarussischem Gebiet Einsätze und feuerte massiv Raketen auf Ziele in ukrainischen Städten. Dabei kamen sehr ungenaue Kh22-Raketen aus den 70-er Jahren zum Einsatz.

Raketenangriffe sind für die Zivilbevölkerung in der Ukraine eine große Gefahr. Dadurch dass Russland sowohl von Belarus aus von Norden als auch vom Schwarzen Meer aus von Süden Raketen auf die Ukraine abfeuert, ist eine Abwehr über dem riesigen Gebiet besonders schwierig.

Was können wir also tun? Die gelieferte 155mm Artillerie macht einen erkennbaren Unterschied, die gelieferten Stückzahlen sind jedoch bisher für die Länge der Front noch zu gering.

Die bisher 10 PzH2000 aus Deutschland sind hilfreich, im Vergleich zu beispielsweise 72 AHS Krab aus Polen (18 Bestand, 54 Industrie), 22 M109 aus Norwegen und 18 CAESAR aus Frankreich jedoch weiter ausbaufähig.

Gepanzerte Fahrzeuge helfen, damit die Ukraine nicht weiter ihre Truppe auf ungeschützten Transporten durch Schrapnelle und Splitter verliert. Die Diskussion um "Schützenpanzer", abhängig davon, wie stark die Bewaffnung der Fahrzeuge ist, geht am tatsächlichen Bedarf vorbei.

Die Ukrainer brauchen dringend geschützte Mobilität unter Artilleriefeuer, das geht mit gelieferten und angekündigten Fahrzeugen wie M113, Bushmaster, Mastiff, Wolfhound, Humvee, Huskee und den jetzt angekündigten französischen VAB.

Aus Deutschland wären neben den viel diskutierten Mardern auch Fuchs, Dingo, Mungo, Eagle und M113-Varianten hilfreiche Unterstützungen für die Ukraine.

Die Ukraine erhielt Kampfpanzer, vor allem T-72-Varianten, aus Polen, Tschechien, der Slowakei und Slowenien. Diese Lieferungen glichen die bisherigen Verluste ungefähr aus.

Mit zunehmender Dauer des Krieges stellt sich in Bezug auf Kampfpanzer die Frage: Wie weiter? Die Ausbildung an westlichen Kampfpanzern und deren Lieferung wird erforderlich sein, wenn die starken Aussagen aus den Erklärungen von G7 und NATO-Gipfel eingelöst werden sollen.

Bei der Raketenabwehr haben Deutschland und die USA mit den Ankündigungen der Lieferungen von Iris-T SLM und NASAMS richtigerweise neue Perspektiven eröffnet. Auch mit Blick auf heute früh wieder 10 Tote in einem zivilen Gebäude in Odessa gilt: Mehr und schneller ist besser.

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Die Lage in der Ukraine wirft nach den sehr guten, klaren und geschlossenen Botschaften der Gipfel von EU, G7 und NATO jetzt vor allem zwei strategische Fragen auf:

  1. Wie wollen und können die Partner der Ukraine sich durch bessere europäische und internationale Koordinierung der Lieferungen und vorausschauende Produktion von Material und Munition auf eine mittel- und langfristige Unterstützung der Ukraine einrichten?
  2. Übersetzen sich die erklärten Absichten von EU, G7 und NATO in politischen Willen und Entschlossenheit, um statt tröpfelnder, zögerlicher Lieferungen jetzt durch viel massivere Unterstützung die Ukraine schnell in die Lage dazu zu versetzen, diesen Krieg zu beenden?

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Karten von Nathan Ruser @Nrg8000

Zum Wandel von Zwei-Tage-Krieg zu Zwei-Jahres-Krieg mehr hier: https://twitter.com/nicolange_/status/1540216569808228352?s=20&t=FKpaZl_oeXIlSMZJtnfZWw

Im aktuellen Economist erschien ein lesenswertes Dossier zur Frage, wie die Ukraine einen langen Krieg gewinnen kann: How to win Ukraine’s long war | The Economist

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