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POLITIK
DEUTSCHLAND
PROTEST IM WANDEL
„Die Menschen fühlen große Distanz zu allem, was als sogenannter Mainstream bezeichnet wird“
Stand: 10.06.2022 | Lesedauer: 8 Minuten
Von Maraike MirauRedakteurin Nachrichten & Gesellschaft
Verschwörungsnarrative sind so alt wie die Menschheit selbst, vor allem in Krisensituationen. Gingen die Menschen zunächst gegen die Corona-Maßnahmen auf die Straße, demonstrieren sie heute gegen Waffenlieferungen. Wie ist dieser Themenwandel so problemlos möglich?
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ünktlich um 19 Uhr zu den ersten Klängen des Liedes „Heimat“ von „Xavier Naidoo & Friends“ setzt sich der Demonstrationszug in Gera in Bewegung. Vorbei am Theaterplatz ziehen die Protestierenden in Richtung Innenstadt. Rund 350 Frauen und Männer haben sich angeschlossen. Einige unter ihnen tragen Flaggen mit dem Thüringer Landeswappen, andere Schilder mit Beschriftungen wie „Wer Frieden will liefert KEINE Waffen“ oder „Abrüsten ist das Gebot der Stunde“.
Um eine Friedensdemonstration handelt es sich jedoch nicht, sondern um einen „Montagsspaziergang“. Jene Spaziergänge, die mit dem Beginn der Pegida-Demonstrationen 2014 zunächst durch ausländerfeindliche Parolen bekannt wurden und sich einst als Protest gegen die „Islamisierung des Abendlandes“ bezeichnete.
Der anfänglich große Zulauf in den neuen Bundesländern sorgte dafür, dass auch in westdeutschen Städten und im Ausland ähnliche Ableger entstanden. Umrahmt wurde das Protestgeschehen von zahlreichen politischen Debatten um die Frage, welches Demokratieverständnis in Ostdeutschland denn so viele Jahre nach der Einheit herrsche. Bis Corona kam.
Acht Jahre später ist das Format der „Montagsspaziergänge“ geblieben und mitunter auch ein Teil der Demonstranten. Doch die Themen haben sich erneut verändert. In den vergangenen Monaten fanden wieder deutschlandweit Tausende „Spaziergänger“ zusammen, um gegen die Corona-Maßnahmen und die geplante Impfpflicht zu protestieren. Die Plakate gegen die vermeintliche „Corona-Diktatur“ sind heute noch vereinzelt zu sehen – nun aber zwischen Bildern von Friedenstauben und Russland-Fahnen.
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Piotr Kocyba, Protestforscher an der Technischen Universität Chemnitz, überrascht das neue Thema der Montagsspaziergänge nicht: „Die Menschen, die sich dort versammeln, fühlen große Distanz zu allem, was als sogenannter Mainstream bezeichnet wird. Egal, ob es politische Entscheidungen sind oder ob es um Einschätzungen von Sachverhalten in öffentlichen Debatten geht.“ Das Ziel sei mit den Versammlungen zum Ausdruck zu bringen, dass man dem Vorgehen im Land nicht vertraut.
Insofern kann man die Spaziergänge also weiterhin als Ressentimentbewegung gegen „die Elite“ verstehen. Dass der Zulauf bei den Spaziergängen trotz der auslaufenden Corona-Maßnahmen und der gescheiterten Impfpflicht anhält, habe laut Daniel Trepsdorf, Leiter des RAA-Demokratiezentrums Westmecklenburg, aber noch einen anderen Grund. Es hat vor allem mit dem Gemeinschaftsgefühl der Demonstranten zu tun. „Es gibt da gruppendynamische Effekte, die eine große Rolle spielen: Zugehörigkeitsgefühle, Identitätsfindung, Selbstvergewisserung. Besonders Menschen, die Woche für Woche demonstrieren, entwickeln gewissermaßen freundschaftliche Bande“, sagt Trepsdorf.
Der ehrenamtliche Stadtvertreter der Linkspartei beobachtet seit Langem die Entwicklungen verschiedener Demonstrationen in Schwerin. Wie in Gera finden auch dort regelmäßig Montagsspaziergänge statt. Die dichotome Weltsicht unter den Demonstrierenden und das damit verbundene „Freund-Feind-Schemata“ nehme mitunter sektenähnliche Züge an, sagt Trepsdorf.
„In der Folge wird der Blick auf eine komplexe Wirklichkeit stark eingetrübt. Es gibt dann lediglich noch ‚Scheinbar Wissende und Schlafschafe‘, ‚Gut und Böse‘, ‚Wir und die Anderen!‘ – und dies ist auf Dauer brandgefährlich für die demokratische Kultur“, so der Demokratieberater aus Mecklenburg-Vorpommern.
„Aus der Filterblase wird ein undurchdringlicher Echobunker“
Dass sich die Spaziergänger teilweise auch freundschaftlich nahestehen, sieht man auch in Gera. Viele der Demonstranten kommen in kleinen Gruppen zur Versammlung. Einige haben Fahrgemeinschaften gebildet. Es gibt Männer mittleren Alters, Paare und vereinzelt Familien mit kleineren Kindern. Abgesehen von ihren Schildern und Tröten unterscheidet sich der Großteil jedoch äußerlich kaum von anderen Passanten in der Geraer Fußgängerzone.
Fahnen des Bündnisses „Freies Thüringen“ zeigen jedoch, dass es sich bei den Spaziergängern nicht nur um Menschen handelt, die sich um Impf-Nebenwirkungen oder über eine Eskalation des Krieges in der Ukraine sorgen.
Das Bündnis gehört laut dem Thüringer Amt für Verfassungsschutz zu den „zentralen Mobilitätsplattformen für das unangemeldete Corona-Protestgeschehen in Thüringen seit dem Jahresende 2021.“ In dem gleichnamigen Telegram-Kanal fänden sich „Videos amtsbekannter Extremisten sowie weitergeleitete Posts extremistischer Parteien“, heißt es in einem Bericht des MDR.
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Obgleich der Montagsspaziergang in Gera unangemeldet stattfindet, sind die zentralen Köpfe der Versammlungen lokal bekannt. Wie diverse Medienberichte und Twitteraccounts herausarbeiten, sind Peter Schmidt und Christian Klar für die Mobilmachung in der ostthüringischen Stadt zuständig.
Schmidt, Geschäftsführer einer Firma für Industriemontagen, verschaffte der Stadt Gera bereits in der Vergangenheit auch überregional Aufmerksamkeit. So lud er 2020 den FDP-Landesvorsitzenden Thomas Kemmerich zu einem Corona-Spaziergang ein, an dem auch stadtbekannte Reichsbürger und Neonazis teilnahmen.
Für Demokratieforscher Trepsdorf ist dennoch wichtig zu betonen, dass man nicht alle Demonstranten über einen Kamm scheren darf. Es gebe durchaus unterschiedliche Menschen bei den Protesten. Ein pluralistischer Diskurs fände bei den Versammlungen sowie in den einschlägigen Chat-Gruppen jedoch quasi nicht mehr statt. Durch die unzulässige Vereinfachung würde dann in der Gruppe ein klares Feindbild konstituiert. „Aus der digitalen Filterblase wird dergestalt ein undurchdringlicher Echobunker“, erklärt Trepsdorf.
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Trotz fehlender Protestanmeldung sichert die Landespolizei auch an diesem Montag den Spaziergang in Gera mit Einsatzfahrzeugen ab. Man sei „aus der Erfahrung heraus für Einsätze vorbereitet“, heißt es im Vorfeld von einer Sprecherin. Dass die Spaziergänge nicht einfach aufgelöst werden können, ist auf das Recht der Versammlungsfreiheit nach Artikel 8 des Grundgesetzes zurückzuführen.
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Auto- und Bahnfahrer müssen sich an den Hauptverkehrsstraßen in Gera jedoch nur kurzzeitig gedulden. Denn die Zahl der Demonstranten ist seit einigen Wochen merklich zurückgegangen. „Gegenwärtig belaufen sich die Teilnehmerzahlen im niedrigeren dreistelligen Bereich“, heißt es von der Landespolizeiinspektion Gera. Vor ein paar Monaten war das noch anders. So ließen sich in Gera Ende 2021, also Mitten in der Pandemie im sogenannten „Lockdown light“, noch mehrere tausend Menschen mobilisieren.
Für Demokratieberater Trepsdorf ist der Rückgang jedoch volatil. „Solange der derzeitige Krisen- und Katastrophenmodus fortbesteht, wird es immer Menschen geben, die sich entweder als Schwarzseher und Endzeitapostel oder als Wachrüttler und Mahner verstehen“, sagt der Demokratieberater aus Mecklenburg-Vorpommern.
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Auch Protestforscher Kocyba hält es für unwahrscheinlich, dass Demonstrationen wie die Montagsspaziergänge irgendwann gänzlich verschwinden. „Pegida ist auch heute noch auf den Straßen, obwohl die sogenannte Flüchtlingskrise bereits Jahre zurückliegt und auch die Zahlen der Flüchtlinge, die aus mehrheitlich muslimischen Gesellschaften nach Deutschland kommen, nicht mehr hoch sind.“
Für den Forscher am Europainstitut der Technischen Universität Chemnitz zeige dies, dass Menschen, die an diesen Demonstrationen teilnehmen oder diese organisieren, auch immer wieder andere Themen als Anlass zum Protest finden.
Das zeige sich auch aktuell mit Bezug auf den Krieg in der Ukraine. „Sollte der Krieg noch länger dauern und es tatsächlich zu etwa Energieengpässen aufgrund der Kriegshandlungen oder Sanktionen kommen, könnte ich mir vorstellen, dass es den Demonstrationen auch wieder Aufschwung gibt“, sagt der Protestforscher.
Protest soll Widerspruch zum westlichen Denken verdeutlichen
Dass viele Menschen in den neuen Bundesländern durch die Zeit der sowjetischen Besatzung einen anderen Bezug zu Russland haben könnten, ist für Protestforscher Piotr Kocyba nur bedingt eine Erklärung für den Themenwandel bei den Demonstrationen. „Man könnte das auch ganz anderes bewerten. Ein Beispiel dafür wäre die Stimmungslage in Polen, das ebenso lange Teil des Ostblocks war wie die ehemalige DDR. Die meisten Polen haben wegen dieser Geschichte aber eine skeptische Einstellung gegenüber Russland.“
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Er glaubt, dass die Verschiebung des thematischen Schwerpunkts der Proteste auf den Ukraine-Krieg vor allem damit zusammenhängt, dass man wieder ein politisch brisantes Thema besetzen möchte, mit dem man seinen Widerspruch zum sogenannten Westen und zum westlichen Denken zum Ausdruck bringen kann.
„Insgesamt darf man jedoch nicht glauben, dass Themen wie Waffenlieferungen nur in den neuen Bundesländern kontrovers diskutiert werden. Teile der Friedensbewegung in den alten Bundesländern wird ähnliche Töne anschlagen“, vermutet Kocyba. Das Mobilisierungspotenzial werde wahrscheinlich ein wenig schwächer sein, aber der Ukraine-Krieg werde Demonstranten bestimmt nicht nur im Osten des Landes auf die Straßen bringen.
Demonstrationen bilden nicht die Meinung in Gera ab
Gegenüber vom Geraer Rathaus, in den Büros des Stadtverbands der Linken, werden die Montagsspaziergänge und die Entwicklungen der Teilnehmerzahlen auch weiterhin genau beobachtet. Die schwindende Teilnehmerzahl hat jedoch auch hier dazu geführt, dass man nicht mehr jede Woche eine Gegendemonstration organisiert.
Das bedeute jedoch nicht, dass man die Versammlungen in Gera einfach kommentarlos hinnehme, betont Max Streckhardt, stellvertretender Vorsitzender des Stadtvorstands der Linken in Gera. Beim Spaziergang am 23. Mai begleiteten etwa Vertreter einer unbekannten Gruppe die Demonstranten auf ihre eigene Art.
Verkleidet mit Tierkostümen und Plakaten wollte man so auf die politische Ausrichtung einiger Protestierender aufmerksam machen. „ ...und Nein! Ich sage NICHT, dass Ihr Mitläufer auf den Spaziergängen alle Nazis seid. Aber Ihr lauft da Nazis hinterher“, ist später in einem Facebook-Post des „Aktionsbündnis Gera gegen Rechts“ zu lesen.
Ein Abbild der allgemeinen Meinung der 93. 383 Menschen, die in Gera leben, seien die Montagsdemonstrationen in keinem Fall betont Streckhardt. Gerade kurz nach Beginn des Krieges sei die Anteilnahme in der Bevölkerung riesig gewesen. In der Nicolaischule in der Geraer Innenstadt seien viele Spenden zusammengekommen.
Auf die Debatten zu den Lieferungen schwerer Waffen als auch die 100 Milliarden Euro Sonderausgaben für die Bundeswehr würde man in Gera jedoch kritisch blicken. „Da wird häufig gefragt, wo dieses Geld nun plötzlich herkommt“, so Streckhardt.
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In Gera sind die Protestierenden nach rund einer Stunde Rundweg über die Ernst-Toller-Straße wieder an ihren Ausgangspunkt zurückgekehrt. Laut Streckhardt handelt es sich bei den verbleibenden Demonstrierenden nur noch um den harten Kern. Rund 200 von ihnen seien direkt aus Gera, der Rest eher aus dem Umland. Doch dieser harte Kern, da ist sich Streckhardt sicher, werde auch in den nächsten Wochen weiterhin auf die Straße gehen.
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