Lager

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SYBIL MILTON


VORSTUFE ZUR VERNICHTUNG


Die Zigeunerlager nach 1933


Der „apokalyptische Fanatismus"¹ des nationalsozialistischen Genozids führte wäh- rend des Zweiten Weltkriegs zur Ermordung von einer viertel bis zu einer halben Million Roma und Sinti im deutschen Macht- und Einflußbereich. Die amerikani- sche Anklagevertretung in Nürnberg sah, daß Sinti und Roma, damals als Zigeuner bezeichnet und sich selbst so bezeichnend, zu jenen drei genetischen Gruppen gehör- ten (Juden, Sinti und Roma, Behinderte), deren Los die Ausgrenzung, Konzentrie- rung und Vernichtung war, und zwar als Resultat einer planvollen, wissenschaft- lich" konzipierten und bürokratisch exekutierten Politik. Die von ihnen beschlag- nahmten deutschen Akten sowie die Aussagen aus dem Kreis der Täter hatten die an- glo-amerikanischen Richter und Staatsanwälte von der Parallelität und Konvergenz der nationalsozialistischen Politik gegen diese drei Gruppen überzeugt; sie alle wur- den aufgrund ihrer Erbmasse - aufgrund ihres „Blutes", wie die Nationalsozialisten sagten - als auszumerzende Fremdkörper in der deutschen nationalen Gemeinschaft definiert³.

Die Sinti und Roma, als nicht-kaukasische ethnische Minderheiten wegen ihrer dunkleren Hautfärbung mit Afro-Deutschen auf eine Stufe gestellt und wie die Ju- den als „artfremd" und kriminell angesehen, wurden in regelmäßigen Abständen von der fremdenfeindlichen Presse und Bürokratie angegriffen, die zur „Bekämp- fung des Zigeunerunwesens" aufriefent. Wie die Behinderten, so galten auch die Sinti und Roma als unproduktiv und minderwertig, weshalb ihnen gleichartige eugeni- sche Restriktionen drohten. Obwohl Sinti und Roma nur etwa 0,05 Prozent der deutschen Bevölkerung ausmachten und man sie auch als marginale soziale Gruppe einstufte, sahen sie sich als Rassenfremde gebrandmarkt. Während aber das Schicksal der Juden in zahlreichen Berichten Überlebender und in einer stattlichen wissen- schaftlichen Literatur eine ausführliche Behandlung gefunden hat, ebenso die soge- nannte Euthanasie, fand das Geschick der Sinti und Roma weit geringere Aufmerk- samkeit. Die verstreuten Artikel und Monographien, die zu diesem Thema in klei- nen Verlagen erschienen sind, haben, von wenigen Ausnahmen abgesehen, noch kei- nen Eingang in den Hauptstrom der Holocaust-Historiographie gefunden. Daher er- fordert ein volles Verständnis des nationalsozialistischen Genozidprogramms eine detaillierte Untersuchung der zigeunerfeindlichen Politik des Dritten Reiches von 1933 bis 1939.


Nach Hitlers Machtübernahme am 30. Januar 1933 beeilte sich die deutsche Büro- kratie, die von den Nationalsozialisten geforderte Rassengesetzgebung einzuführen. Dazu gehörten die Ausdehnung und Verschärfung etlicher im wilhelminischen Deutschland und in der Weimarer Republik erlassener Gesetze, die bereits die will- kürliche Verhaftung, die präventive Festsetzung und die Registrierung seßhafter oder wandernder deutscher Sinti und Roma wie auch die Ausweisung ausländischer und staatenloser Sinti und Roma ermöglicht hatten. Die „Ländervereinbarung zur Bekämpfung der Zigeunerplage" vom 18. März 1933 vereinigte und erweiterte das bayerische „Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheu- en" von 1926 und den „Erlaß über die Ausgabe von Bescheinigungen" als Sonderaus- weise für Sinti und Roma, in dem das preußische Innenministerium 1927 die Betrof- fenen als Gewohnheitsverbrecher, soziale Schädlinge und Vagabunden stigmatisiert hatte. Die „Ländervereinbarung" enthielt Bestimmungen, die für Sinti und Roma die Ausgabe und Erneuerung von Erlaubnisscheinen zur Ausübung von Wanderge- werben beschränkte, was Arbeitslosigkeit und Armut zu einer Zeit vermehrte, da die Kommunen aufgrund der Wirtschaftskrise ihre Wohlfahrtszahlungen reduziert hatten. Ferner wurden Zigeunerkinder im schulpflichtigen Alter der Aufsicht der städtischen Wohlfahrtsämter unterworfen, die berechtigt waren, Schulschwänzer in spezielle Jugendheime und Kinder ohne Deutschkenntnisse in Sonderschulen für Zu- rückgebliebene einzuweisen. Bei ihren Wanderungen sahen sich die Zigeuner nun auf bestimmte Routen verwiesen, die von der Polizei festgelegt wurden, und ein Zigeu- ner ohne Beschäftigungsnachweis kam in Arbeitshäuser oder Zwangsarbeitslager. Auch hieß es in der „Ländervereinbarung", daß jedes Land zusätzliche Verordnun- gen erlassen könne. Die Länder zögerten nicht lange. So verabschiedete der Stadt- staat Bremen am 10. August 1933 ein „Gesetz zum Schutze der Bevölkerung vor Be- lästigung durch Zigeuner, Landfahrer und Arbeitsscheue", und der Düsseldorfer Re- gierungspräsident erließ am 7. Juli 1933 eine Verordnung zur „Bekämpfung des Zigeunerunwesens"".

Dieses kunterbunte Nebeneinander regionaler und lokaler Gesetze und Verordnungen lieferte die Muster für die Synchronisierung und Radikalisierung der zigeunerfeindlichen Maßnahmen ab 1935. Wenn auch die Länder und Regierungsbezirke

unter der NS-Herrschaft ihre Eigenständigkeit verloren, blieben sie als Verwaltungseinheiten bestehen und konnten aus eigenen Initiativen agieren, solange sie damit nicht in Konflikt mit einer gesamtstaatlichen Linie gerieten. So bestand die kumulative Wirkung des regionalen und lokalen Vorgehens darin, daß die deutschen Sinti und

Roma unter schärfere Polizeikontrolle gestellt und in Angst vor willkürlicher Verfolgung gehalten wurden. Ihrer Bewegungsfreiheit und Arbeitsmöglichkeit wurden enge Grenzen gesetzt. Außerdem diente die „Zigeunerpolizeizentrale beim Polizeipräsidenten von München" - von der bayerischen Legislative 1899 geschaffen und

1926 vergrößert - als Prototyp für die „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens", die 1936 als gesantstaatliche Datenbank zu Sinti und Roma unter der Jurisdiktion des Reichskriminalpolizeiamts (RKPA) und des Reichsinnenministeriums eingerichtet wurden. Diese anfänglichen Verordnungen erleichterten auch die Ausweisung staatenloser und ausländischer Sinti und Roma, ein Vorspiel der späteren Austreibung rassischer Gruppen, die für „unerwünscht" erklärt wurden. Im Juli 1933 fanden sich Sinti und Roma im „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" als „Asoziale" klassifiziert, ebenso im „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher", das im November 1933, erlassen wurde. Das erste Gesetz führte zu ihrer zwangsweisen Ste- rilisierung10, während das zweite ihre Einweisung in Konzentrationslager erlaubte. Das „Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit" vom 14. Juli 1933 und das „Gesetz über Reichsver- weisungen" vom 23. März 1934, ursprünglich gegen „Ostjuden" gerichtet, dienten ebenfalls dazu, ausländische und staatenlose Zigeuner vom deutschen Boden zu ver- treiben.


Schon 1933 waren mehrere Sinti festgenommen und in lokale Konzentrationslager verbracht worden. Zwei männliche Sinti hatten sechs Wochen im Konzentrationsla- ger Osthofen bei Worms zubringen müssen, und ein Düsseldorfer Sinto, ohne Pa- piere „als Gefahr für die öffentliche Sicherheit" verhaftet, war fünf Monate lang im Konzentrationslager Brauweiler, einem umgewandelten Arbeitshaus bei Köln, festge- halten worden". Zu der Zahl von Sinti und Roma, die während reichsweiter Polizei- razzien, so während einer einwöchigen Kampagne von Polizei, SA und SS gegen „Bettler und Landstreicher" (18. bis 25. September 1933), festgenommen und dann in Besserungs- oder Strafanstalten und in Konzentrationslagern festgesetzt wurden, gibt es keine genauen Statistiken, wenn es auch außer Zweifel steht, daß sich unter den verhafteten Landstreichern Sinti und Roma befunden haben und beide Gruppen als „Parias" der deutschen Gesellschaft behandelt wurden.

Nachdem die Nürnberger Gesetze vom 15. September 1935 erlassen worden waren, stuften halb-offizielle Kommentare zu diesen Gesetzen die Zigeuner, zusammen mit Juden und Negern, als rassische Minderheiten mit „artfremdem Blut" ein¹³. Die Ver- abschiedung des sog. „Ehegesundheitsgesetzes", einen Monat nach den Nürnberger Gesetzen (18. Oktober 1935), hatte weitere Auswirkungen". Alle Eheschließungen er- forderten die Genehmigung durch die Gesundheitsämter, und jede Person, die eine Ehe eingehen wollte, mußte in einem „Ehetauglichkeitszeugnis" die „Erbgesundheit" etwaiger Nachkommen nachweisen. Ehen, die man als schädlich für die Erbgesund- heit der Nation ansah, wurden verboten. Damit war von der Eheschließung eine noch größere Gruppe ausgeschlossen als die vom Sterilisierungsgesetz Betroffenen¹5. Die nun von den Gesundheitsämtern gesammelten Informationen nahmen einen enormen Umfang an. Das Endziel war ein umfassendes Registrierungssystem mit eugenischen Daten aller Individuen. Der NS-Staat strebte eine „erbbiologische Bestandsaufnah- me" an¹". Und am 26. November 1935 untersagte ein Runderlaß des Reichs- und Preu- ßischen Ministeriums des Innern an alle Standesämter die Eheschließung zwischen so- genannten „Deutschblütigen“ und „Zigeunern, Negern oder ihren Bastarden"17.


Mit der ständig eskalierenden Reihe ineinandergreifender Bestimmungen, die der Durchführung der Nürnberger Rassegesetze dienten, wurden sowohl die Zigeuner wie die Juden allmählich ihrer Bürgerrechte beraubt. So nahm das Gesetz über das Reichstagswahlrecht vom 7. März 1936 beiden Gruppen das Wahlrecht¹8, und auch an der Volksabstimmung über den Anschluß Österreichs, die am 10. April 1938 statt- fand, durften weder Juden noch Zigeuner teilnehmen; diese Verordnung wurde am 23. März 1938 erlassen, zehn Tage nach dem Anschluß.

Im Jahre 1934 begann das Rassenpolitische Amt der NSDAP in Zusammenarbeit mit der Gestapo „Asozialenkarteien" anzulegen, d. h. umfassende Listen sog. antiso- zialer Elemente. Die Polizei- und Gesundheitsbehörden des NS-Regimes setzten also in ständiger Erweiterung jene systematische Registrierung der Sinti und Roma als potentielle - und als rassisch definierte - Kriminelle fort, die schon in der Weima- rer Republik begonnen hatte 20. So charakterisierte die „erb- und rassenbiologische" Erfassung und Begutachtung die Zigeuner als „ein rassenbiologisches Problem", als „minderwertige Kriminelle und Asoziale" asiatischer Herkunft 21. Anthropologen, Psychiater und Genetiker leiteten, gewöhnlich von der Deutschen Forschungsge- meinschaft finanziert, reichsweite Untersuchungen zur Erbgesundheit von Zwillin- gen, Familien und kleinen Gemeinschaften ein, konzentriert auf Sinti, Roma und Be- hinderte. Dr. Robert Ritter, der führende Spezialist der Zigeunerforschung, sammelte ein Team von Assistenten und eröffnete nach dem Frühjahr 1936 die systematische genealogische und genetische Überprüfung von Zigeunerfamilien; dies war Teil sei- ner Aufgaben bei der „Rassenhygienischen und Bevölkerungsbiologischen For- schungsstelle", auch bekannt als „Untergruppe L 3" des Reichsgesundheitsamts22. Ritter und seine Leute erhielten den Auftrag, die annähernd 30000 Zigeuner und Zi- geuner-Mischlinge in Deutschland (und Österreich) zu registrieren, um genealogi- sche und rassische Daten für ein neues „Reichszigeunergesetz" zu liefern. Ritters Gruppe zielte auf den Nachweis ab, daß bei Zigeunern kriminelles und asoziales Ver- halten erblich sei.

Außerdem resultierte die nationalsozialistische Sozialpolitik hinsichtlich der Zi- geuner in einer Reduzierung der Wohlfahrtsausgaben; die Unterstützung einer wach- senden Zahl verarmter Juden wurde der Reichsvertretung der Juden in Deutschland nach 1939 Reichsvereinigung der Juden in Deutschland - übertragen, während be- dürftige Sinti und Roma von den städtischen Behörden immer weniger finanzielle Hilfe bekamen. Die nämlichen städtischen Beamten internierten in der Folgezeit Sinti und Roma in sogenannten Zigeunerlagern, wo die nationalsozialistische Ras- sen- und Erbgesundheitspolitik manchmal zur Sterilisierung von Insassen führte. Am 6. Juni 1936 erließ das Reichs- und Preußische Ministerium des Innern eine -


Verordnung, die neue Direktiven für einen Runderlaß betreffend die Bekämpfung der Zigeunerplage enthielt. Die Verordnung brachte auch die rückwirkende Autori- sierung für den Berliner Polizeipräsidenten, in ganz Preußen einen „Landfahn- dungstag nach Zigeunern" zu exekutieren und vor den Olympischen Spielen alle Zi- geuner festzusetzen. Einige Familien kamen Ende Mai 1936 in den sogenannten „Rastplatz" Marzahn, und am 16. Juli wurden 600 Sinti und Roma in Berlin festge- nommen, was den „Berliner Lokalanzeiger" veranlaßte, einen Bericht über „Berlin ohne Zigeuner" zu bringen. Die verhafteten Sinti und Roma sahen sich unter Polizei- bewachung in ihren pferdebespannten Wagen abgeführt bzw. auf Tiefladern zu einem Abfallplatz beim städtischen Friedhof im Berliner Vorort Marzahn geschafft". Ob- schon die Nähe sowohl eines Abfallplatzes wie von Gräbern kulturelle Tabus von Zi- geunern verletzte, wurde Berlin-Marzahn zum größten Zigeunerlager. Von einer mit Hunden ausgestatteten Einheit der preußischen Schutzpolizei bewacht, bestand das Lager aus 130 Wohnwagen, die vom Reichsarbeitsdienst als unbewohnbar ausge- schieden worden waren. Die hygienischen Einrichtungen waren höchst unzuläng- lich; es gab nur drei Wasserhähne und zwei Toiletten. Überbelegung und ungesunde Verhältnisse waren die Regel; zum Beispiel meldeten die städtischen Behörden im


März 1938 nicht weniger als 170 Fälle von Ansteckungskrankheiten.


Anfänglich ohne Einzäunung, wurde Marzahn dann bald mit Stacheldraht umge- ben. Frauen durften das Lager nur verlassen, um Einkäufe für den Haushalt zu ma- chen, da im Lager selbst keine Ausgabestelle zur Verfügung stand. Obwohl größere Familien gelegentlich in kleinen Gruppen zusammen angereist waren, verwandelte die große Anzahl stationärer Wohnwagen dieses Lager in ein bedrückendes Getto, das praktisch keine Aussicht mehr auf Entkommen bot. Anders als bei den früheren Festnahmen einzelner Sinti und Roma war Marzahn ein „Familien-Lager", wo die Internierten gesammelt, konzentriert und festgesetzt wurden, d.h. das Lager diente auch als Depot für spätere Deportationen.


In Berlin-Marzahn wurden die Sinti und Roma zu Zwangsarbeit herangezogen. Das Reichsgesundheitsamt nötigte sie außerdem, der Polizei und den Gesundheitsbe- hörden detaillierte Daten für anthropologische und genealogische Registrierung zu liefern. Diese Daten wiederum dienten dann als Vorwand für Ausbürgerung und Zwangssterilisierung. Am Beispiel des Zigeunerlagers Berlin-Marzahn zeigte sich eine zunehmend institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen Gesundheitsämtern und Polizei - eine wesentliche Voraussetzung der späteren Entwicklung, die mit De- portation und Massenmord endete". Die anthropologischen Messungen an den Roma- und Sinti-Häftlingen in Marzahn nahm Gerhard Stein vor, ein Schüler des Frankfurter Rasseforschers Otmar v. Verschuer.


Gerhard Stein hatte sich auf das Studium der Zwillinge, der Sterilisation und der erbbiologischen Eignung für Eheschließung spezialisiert. 1910 in Bad Kreuznach ge- boren, trat er 1931 als Tübinger Student in die NSDAP und in die SA ein. Er voll- endete seine ärztliche Ausbildung an den Universitäten Würzburg, Innsbruck, Tü- bingen und Frankfurt, wo er 1937 das medizinische Staatsexamen ablegte. 1936 und 1937 arbeitete er als Angehöriger des Ritterschen und dem Reichsgesundheits- amt unterstehenden Teams in Marzahn, und 1938 verbrachte er sechs Monate in Professor v. Verschuers Frankfurter Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene. Stein baute die Ergebnisse seiner Marzahner Untersuchungen in seine 1938 entstan- dene Dissertation „Zur Physiologie und Anthropologie der Zigeuner in Deutsch- land" ein, die Verschuer akzeptierte; 1941 erschien sie als ein mit Tabellen und Fo- tos ausgestatteter Aufsatz von 43 Seiten Länge in der „Zeitschrift für Ethnolo- gie"28. In seinem ersten Bericht aus Marzahn, der das Datum 1. September 1936 trägt, erwähnte Stein „die Wildheit und Zügellosigkeit des zigeunerischen Wesens" und kommentierte, daß „die Bastarde allgemeingefährlich und von Natur aus Ver- brecher sind". Obwohl von der Notlage der festgesetzten Sinti und Roma nicht sonderlich bewegt, konnte Stein nicht umhin, die katastrophale Armut und die er- schreckenden sanitären Verhältnisse zu erwähnen, die im Lager Marzahn herrsch- ten 29.


In offiziellen Publikationen ist der Transfer nach Marzahn kaschiert worden, in- dem man für das Lager die bewußt irreführende harmlose Bezeichnung „Rastplatz" gebrauchte. Die Nationalsozialisten verwandten den Begriff herabsetzend und ironisch. Dem normalen Sprachgebrauch gaben sie bei der Benennung der von ihnen ge- schaffenen Opfer und Elendsstätten eine sarkastische Note, die Verachtung ausdrük- ken sollte. Als amtliche Rechtfertigung für die Deportation ganzer Sinti- und Roma-Familien von ihren rechtmäßig gemieteten und registrierten Berliner Domizi- len und Lagerplätzen wurde angeführt, daß in der Hauptstadt vor Beginn der Olym- pischen Spiele von 1936 Kriminalität und Bettlerunwesen unter Kontrolle gebracht werden müßten31.


Im Hinblick auf die Olympischen Spiele geschaffen, wurde das Lager Marzahn je- doch zur permanenten Haftstätte für Sinti und Roma. Während des Krieges mußten die Insassen in den Steinbrüchen von Sachsenhausen und - nach alliierten Luftangrif- fen - beim Schutträumen in Berliner Straßen Zwangsarbeit leisten. 1943 sind schließ- lich die meisten nach Auschwitz deportiert worden.


Marzahn war nicht das einzige Zigeunerlager, wohl aber vermutlich das größte. Nach 1935 brachten etliche Stadtverwaltungen und lokale Wohlfahrtsämter die Poli- zei dazu, eine wachsende Anzahl deutscher Zigeuner in neugeschaffenen städtischen Zigeunerlagern einzusperren. Diese Lager waren im Grunde SS-Sonderlager: speziel- le Internierungsstätten, die Elemente der Schutzhaftlager aufwiesen und zugleich em- bryonale Gettos darstellten; in ihnen lebten ganze Familien, einschließlich der Frau- en und Kinder. Gewöhnlich an den Stadträndern gelegen, wurden die Lager von SS, Gendarmerie oder uniformierter städtischer Polizei bewacht. Sie dienten der genea- logischen Registrierung, der Zwangssterilisierung und als Reservoir von Zwangsar- beitern. Zwischen 1933 und 1939 entstanden Zigeunerlager in Köln, Düsseldorf, Es- sen, Frankfurt, Hamburg, Magdeburg, Pölitz bei Stettin und anderen deutschen Städ- ten. Nach 1939 verwandelten sich diese städtischen Internierungslager in Sammella- ger für die systematische Deportation in Konzentrationslager, Gettos und Tötungszentren.

In Frankfurt haben lokale Funktionäre darunter Polizeipräsident Beckerle, - Oberbürgermeister Krebs und Vertreter des Wohlfahrtsamts - im Frühjahr 1936 die bestehenden zigeunerfeindlichen Bestimmungen erweitert. Zu den neuen Maßnah- men gehörten: polizeiliche Durchsuchungen aller Zigeunerwohnungen dreimal in der Woche; ständige Prüfung der Papiere, um Staatenlose oder Ausländer herauszu- finden, die für eine Ausweisung in Frage kamen; zwangsweise genetische und genea- logische Registrierung durch städtische Behörden; Umsiedlung aller Sinti und Roma, die innerhalb der Stadtgrenzen entdeckt wurden, in das Frankfurter Zigeunerlager; Verhinderung der Vermietung lokaler Lagerplätze an Sinti und Roma außerhalb des städtischen Zigeunerlagers; Zurückweisung wandernder Sinti und Roma bei ihrer Ankunft an der Stadtgrenze³³.


Frankfurt ließ sich noch weitere Schikanen einfallen, gegen seẞhafte wie gegen wandernde Zigeuner. So wurde die Ausgabe neuer Gewerbescheine an umherziehen- de Sinti und Roma eingeschränkt, womit man ihre Tätigkeit als Messer- und Scheren- schleifer, Pferdehändler, Vertreter, Wahrsager, Musiker und Zirkusartisten verhinder- te oder erschwerte; der Schulbesuch der Zigeunerkinder wurde kontrolliert, und Schulschwänzer sahen sich durch die Verbringung in städtische Jugendanstalten be- straft; alle von der Polizei festgenommenen oder verhafteten Zigeuner wurden zwangsweise registriert. Flucht aus einem Zigeunerlager wurde durch automatische Überstellung in ein Konzentrationslager geahndet".


Im Düsseldorfer Lager Höherweg mußten die Sinti und Roma sechs Mark pro Monat für minderwertige Unterbringung in Baracken zahlen, die nicht einmal elek- trisches Licht hatten; sie waren jedoch andererseits vom Empfang von Arbeitslosen- unterstützung oder Wohlfahrtshilfe ausgeschlossen. Der Lagerführer verhängte au- ßerdem rigide Ausgangssperren, verbot den Kindern das Spielen auf dem Lagergelän- de und untersagte den Besuch von Verwandten, die keine Zigeuner waren³5.


Ähnlich war die Situation in Köln. Am 28. Februar 1938 unterrichtete der „Ge- schäftsführende Präsident des Deutschen Gemeindetags" den Oberbürgermeister von Hindenburg in Oberschlesien, „in Köln werde dem sog. Fahrenden Volk', den Zigeunern und ihren Bastarden, den Korb- und Schirmmachern, im Einvernehmen mit der Polizei am Rande der Stadt ein Platz zum Aufenthalt mit ihren Wagen ange- wiesen. An einer anderen Stelle dürften sie sich nicht aufhalten. Die Unterstützungs- zahlung, fast ausschließlich in Naturalien, werde hiervon abhängig gemacht."3" Das Kölner Zigeunerlager an der Venloerstraße 888 war im Mai 1935 eingerichtet worden. Es galt als das Muster für Zigeunerlager in anderen deutschen Städten, und so machte der Deutsche Gemeindetag die Kölner Erfahrungen und Daten den übrigen städtischen Verwaltungen im Reich zugänglich.


Ein im März 1936 für Staatssekretär Hans Pfundtner im Reichsinnenministerium ausgearbeitetes Memorandum enthielt die ersten Hinweise auf die Vorbereitung ei- nes Reichszigeunergesetzes und auf die einem solchen Gesetz entgegenstehenden Schwierigkeiten: „Auf Grund aller bisherigen Erfahrungen muß jedenfalls vorweg festgestellt werden, daß eine restlose Lösung des Zigeunerproblems weder in einem einzelnen Staate noch international in absehbarer Zeit möglich sein wird." Die Emp- fehlungen für die Zwischenzeit, die das Memorandum gab, umfaßten die Auswei- sung staatenloser und ausländischer Zigeuner, Einschränkung der Bewegungsfreiheit und der Ausgabe von Wandergewerbescheinen, verschärfte Polizeikontrolle, Sterili- sierung der Zigeuner gemischer Herkunft, der sog. Mischlinge, vollständige Erfas- sung und Registrierung aller Zigeuner im Reich und ihre Unterbringung in einem ei- genen Zigeunerreservat. Der fehlgeschlagene Versuch, eine gesamtstaatliche Zigeu- nerpolitik zu formulieren, war nur insofern erfolgreich, als er zur Konsolidierung der Polizeiarbeit und zunehmend zur Koordinierung der städtischen Zigeunerlager durch den Deutschen Gemeindetag führte.


Eine Überprüfung der existierenden historischen Literatur zeigt die Parallelen zwischen den Zigeunerlagern und dem Konzentrationslagersystem. Im übrigen sind Sinti und Roma auch in die größeren Konzentrationslager verbracht worden. So ka- men im Juli 1936 vierhundert bayerische Sinti und Roma nach Dachau. Diese Ver- haftungsaktion geschah fast zeitgleich mit der Festnahme Berliner Sinti und Roma und deren Verbringung nach Marzahn. Weitere 1000 „arbeitsfähige" Sinti und Roma wurden in Razzien Mitte Juni 1938 festgenommen und in Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen eingeliefert; Frauen wurden in das sächsische Konzentrationslager Lichtenburg gesteckt. Grundlage der Aktionen des Jahres 1938 war eine im Dezem- ber 1937 erlassene Verordnung zur „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung". Die Verordnung dehnte die Verhängung vorbeugender Haft auf alle Personen aus, deren asoziales Verhalten vorgeblich das Gemeinwohl bedrohte, ohne Rücksicht darauf, ob ein Vorstrafenregister vorlag. Sie wurde gegen fahrende und arbeitslose Zigeuner angewandt, gegen sog. Asoziale, Beschäftigungslose, Berufsverbrecher, obdachlose Bettler und Juden, die schon einmal zu mehr als dreißig Tagen Haft verurteilt wor- den waren (Strafen für Verkehrsvergehen eingeschlossen). Die Festnahmen wurden nicht von der Gestapo, sondern von der Kriminalpolizei vorgenommen und liefer-


ten dem expandierenden Lagersystem potentielle Sklavenarbeiter³".

Nach dem „Anschluß" wurden auch in Österreich Zigeunerlager eingerichtet, die größten bei Maxglan in der Nähe von Salzburg und bei Lackenbach im Burgenland. Ferner kamen auch österreichische Zigeuner in Konzentrationslager, so nach Maut- hausen und Ravensbrück. Schon im Sommer und Herbst 1938 sind rund 3000 an- geblich arbeitsscheue" Sinti und Roma festgesetzt worden: 2000 männliche Zigeu- ner, die älter als 16 waren, kamen nach Dachau, später nach Buchenwald, und 1000 Zigeunerinnen, die älter als 15 waren, nach Ravensbrück.


In den Jahren 1938 und 1939 erreichte die ideologische Besessenheit der National- sozialisten mit den Zigeunern eine Schärfe und Aggressivität, die fast der Wut der Kampagne gegen die Juden gleichkam*". Im August 1938 wurden die Sinti und Roma als militärischer Risikofaktor aus den linksrheinischen Grenzzonen ausgewie- sen, und nach Kriegsbeginn untersagte man ihnen das „Umherziehen" in allen west- lichen Gebieten. Im Mai 1938 ordnete Himmler die Umbenennung des Münchner Amts für Zigeunerangelegenheiten in Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeu- nerunwesens" an, die dann dem RKPA in Berlin eingegliedert wurde, und am 8. Dezember 1938 folgte Himmlers Runderlaß zur „Bekämpfung der Zigeunerpla- ge", die sich auf Robert Ritters Forschungen und „Erkenntnisse" stützte.


Himmlers Verordnung empfahl, „die Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse heraus in Angriff zu nehmen", und schrieb vor, alle Zigeuner im Reich, die älter als sechs Jahre waren, in drei rassische Gruppen einzustufen: „Zigeuner, Zi- geuner-Mischlinge und nach Zigeunerart umherziehende Personen". Die Ausfüh- rungsbestimmungen vom 1. März 1939 stipulierten, das „Ziel der staatlichen Maßnah- men zur Wahrung der Einheit der deutschen Volksgemeinschaft" müsse sein „einmal die rassische Absonderung des Zigeunertums vom deutschen Volkstum, sodann die Verhinderung der Rassenvermischung und schließlich die Regelung der Lebensverhältnisse der reinrassigen Zigeuner und der Zigeunermischlinge. Die erforderliche Rechts- grundlage kann nur durch ein Zigeunergesetz geschaffen werden, das die weiteren Blutvermischungen unterbindet und alle wichtigen Fragen, die das Leben der Zigeu- nerrasse im deutschen Volksraum mit sich bringt, regelt. "42 Eine komplette Registrie- rung der Zigeuner nach Wohnsitz und Herkunft, durchzuführen von den örtlichen Po- lizei- und Gesundheitsbehörden, wurde angeordnet, und alle Zigeuner bzw. Zigeuner- mischlinge sollten mit Lichtbild versehene Ausweise erhalten. Die Verwirklichung der Himmlerschen Verordnung war in der Tat umfassend und führte zum Beispiel zum Ausschluß einiger Dutzend Zigeunermusiker aus der Reichsmusikkammer¹³.


Die Deportation deutscher Sinti und Roma setzte kurz nach Kriegsbeginn ein. Am 17. Oktober 1939 gab Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), den sog. Festsetzungserlaß heraus, der es allen Sinti und Roma, die noch nicht interniert waren, untersagte, ihren gemeldeten Wohnsitz zu verlassen; diese Maßnahme war eine wesentliche Voraussetzung für die Deportationen".


In der zweiten Oktoberhälfte suchte Arthur Nebe, der Chef des RKPA (Amt V des RSHA), die Deportation der Berliner Zigeuner zu beschleunigen. Er fragte am 13. Oktober bei Eichmann an, wann er die Berliner Zigeuner schicken kann. Sollte sich der Abschub besonders der Berliner Zigeuner noch längere Zeit hinziehen, so wäre die Stadt Berlin gezwungen, besondere Lager für die Zigeuner zu erbauen, was sich nur mit großen Kosten und noch größeren Schwierigkeiten ermöglichen lie- ße". Am 16. Oktober machte Eichmann einen ersten Schritt, Nebes Wünschen zu entsprechen. In einem Telegramm an die Gestapoaußenstelle Mährisch-Ostrau gab er die Anweisung, daß mit den von Wien nach Nisko gehenden Judentransporten auch Zigeuner zu deportieren seien: „Bezüglich Abtransport Zigeuner wird mitge- teilt, daß am Freitag, den 20.10. 39, der 1. Judentransport von Wien abgeht. Diesem Transport können 3-4 Waggon Zigeuner angehängt werden."

Nebes Ansuchen, 30000 Berliner Zigeuner zu deportieren, war irreal, da sich die Zahl aller Zigeuner in „Altreich" und „Ostmark" zusammen auf rund 30000 belief. Auch waren die meisten Berliner Zigeuner bereits in Marzahn interniert, und das Scheitern des Nisko-Umsiedlungsplans Ende 1939 schloß die baldige Deportation von 30000 Zigeunern aus dem deutschen Staatsgebiet ins Generalgouvernment aus". Zu dieser im Oktober 1939 unterbliebenen Deportation kam es dann verspätet im Mai 1940, als 2800 deutsche Zigeuner von sieben Sammelzentren im Reich nach Lublin verbracht wurden. In Österreich plante man die Deportationen nach Polen für die zweite Hälfte des August 1940, doch mußte die Durchführung verschoben werden. Die Regeln, nach denen Zigeuner für die Deportation vorgesehen oder von ihnen ausgenommen werden sollten, stellten indes Muster für die später bei jüdi- schen Transporten angewandten Verfahren dar.


46 BA, R 18/5644, Brief von Leonardo Conti, Staatssekretär für das Gesundheitswesen im Reichsmi- nisterium des Innern, an das Hauptamt Sicherheitspolizei, das RKPA und den Präsidenten des Reichsgesundheitsamts, Berlin, 24.1. 1940. In diesen Brief wird Massensterilisierung befürwor- tet: „Wie bekannt, sollte in einem Zigeunergesetz die Lebensweise der Zigeuner und Zigeuner- mischlinge geregelt werden. Es sollte ferner einer weiteren Vermischung von Zigeunerblut mit deutschem Blut entgegengetreten werden und es sollte gegebenenfalls auf gesetzlichem Wege die Grundlage zu einer Unfruchtbarmachung der Zigeunermischlinge geschaffen werden. Diese Fra- gen befanden sich bereits im Fluß, bevor der Krieg ausbrach. Die Kriegsereignisse haben nun plötzlich eine scheinbar neue Lage geschaffen, da jetzt die Möglichkeit ins Blickfeld rückte, die Zi- geuner in das Generalgouvernement Polen abzuschieben. Sicherlich bietet diese Abschiebung für den Augenblick besondere Vorteile. M.E. würde aber die Verwirklichung dieses Planes bedeuten, daß wegen einer einfachen Gegenwartslösung eine wirkliche Radikallösung unterbleibt. Ich bin nach wie vor der Überzeugung, daß eine endgültige Lösung des Zigeunerproblems nur durch Un- fruchtbarmachung der Zigeuner bzw. Zigeunermischlinge erfolgen kann [...]. Dabei bin ich der Auffassung, daß die Zeit für eine gesetzliche Regelung nicht mehr gegeben ist, sondern daß ver- sucht werden muß, entsprechend gewissen analogen Vorgängen die Unfruchtbarmachung der Zi- geuner und Zigeunermischlinge als Sondermaßnahme sofort durchzuführen. Ob man dann nach Durchführung derselben noch eine Abschiebung vornimmt oder die Arbeitskraft dieser biolo- gisch nunmehr unschädlich gemachten Personen nicht im Inlande ausnutzt, bleibt dahingestellt [...]."

Das Vermögen und die Besitztümer der deportierten Zigeuner wurden eingezogen und die Deportierten gezwungen, Abtretungsformulare zu unterschreiben, auf denen sie den Transfer ihres Besitzes als „volks- und staatsfeindliches Vermögen" anerkann- ten, und zwar nach dem „Gesetz über die Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens", das nach dem Juli 1933 zunächst für den Griff nach der Habe verurteil- ter und ausgebürgerter Personen benutzt worden war. Die gleiche Prozedur wurde bei den ersten Deportationen von Juden - bis zum Erlaß der 11. Verordnung - ange- wandt. Indes ist die Deportation der Sinti und Roma im Oktober 1940 wieder un- terbrochen worden, weil die Verwaltung des Generalgouvernements dagegen prote- stiert hatte, mit rund 35000 Zigeunern und überdies mit einer beträchtlichen Anzahl deutscher Juden belastet zu werden³¹. Im Juli 1941 wiederum hielt das RSHA die Deportation ostpreußischer Sinti und Roma an, vermutlich wegen des Angriffs auf die Sowjetunion, und bemerkte dazu, daß eine allgemeine und endgültige Lösung der Zigeunerfrage im Augenblick nicht erfolgen" könne. Statt dessen schlug das RSHA vor, ein neues Zigeunerlager „auf einem geeigneten eingezäunten Platz in der Umgebung von Königsberg" einzurichten. Über die Verhältnisse in diesem Lager, dem letzten städtischen Lager für Sinti und Roma vor der Schaffung des Zigeunerfa-


milienlagers in Auschwitz-Birkenau, ist nichts bekannt. Die Zigeunerlager waren Parallelstrukturen neben dem Konzentrationslagersy- stem. Sinti und Roma wurden in diese städtischen Einrichtungen auf unbestimmte Zeit eingewiesen und gezwungen, dort in heruntergekommenen Behausungen und sowohl ohne ausreichende sanitäre Anlagen wie ohne zulängliche Ernährung zu exi- stieren. Die Insassen litten außerdem unter den Beschimpfungen des Wachpersonals und unter den physischen Belästigungen durch sogenannte Anthropologen, Ärzte und Genetiker. Das Muster der Deportation und der Festsetzung der Sinti und Roma als Familieneinheiten begann mit den städtischen Zigeunerlagern der dreißi- ger Jahre, fand seine Fortsetzung in den Deportationen des ersten Kriegsjahres und endete mit dem Zigeunerfamilienlager (BIIe) in Auschwitz-Birkenau. Ein paralleles System existierte in den größeren Konzentrationslagern, wo tausende deutscher und österreichischer Sinti und Roma eingesperrt waren. Insassen städtischer Zigeunerla- ger konnten jederzeit wegen Verstöße gegen irgendwelche Vorschriften oder wegen Fluchtversuche in Konzentrationslager überstellt werden, doch erfolgten die meisten Einweisungen nach 1938, um dem Konzentrationslagersystem Zwangsarbeiter zu liefern. Bei den städtischen Zigeunerlagern handelte es sich um frühe, dezentralisier- te und provisorische Versuche, Sinti und Roma auszugrenzen, und sie dienten, wie später die Gettos in Osteuropa, am Ende lediglich als Zwischenstationen auf dem Weg zu den Tötungszentren.

(Aus dem Amerikanischen übersetzt von Hermann Graml)


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