Wenn Fakten zu Verschwörungstheorien werden
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Der Vorwurf, ein „Verschwörungstheoretiker“ zu sein, kann seine ausgrenzende und stigmatisierende Wirkung nicht allein durch die Verklammerung mit den Themen Rassismus und Pseudowissenschaft erzielen, sondern nur in Verbindung mit der Bedeutung des Wortes „Verschwörung“ selbst. Um diese Bedeutung zu erfassen, ist der Blick auf reale und eingebildete Verschwörungen in der politischen und strafrechtlichen Praxis der Vereinigten Staaten zu lenken. Empirische Tatsachen, aus denen Rückschlüsse auf eine strafbare Konspiration gezogen werden könnten, lassen sich präventiv unterdrücken, indem sie als „Verschwörungstheorie“ diffamiert werden.
Verschwörungstheorie, Verschwörungstheoretiker, Verschwörungsideologe, Verschwörungswahn usw. Als Jurist bin ich es gewohnt, derart wertende Begriffe nur dann zu verwenden, wenn sie zum zugrunde liegenden Sachverhalt passen. Diesen gedanklichen Vorgang nennt man im Juristendeutsch Subsumtion:
Ein abstrakter Oberbegriff ist durch normative oder deskriptive Merkmale definiert und ein konkreter Sachverhalt wird daraufhin überprüft, ob er unter die Begriffsmerkmale passt. Wegen dieses formalen Vorgehens erscheint die Sprache der Juristen oft trocken und langweilig, sie ist aber auch dadurch gekennzeichnet, dass sie peinlich zwischen Tatsachen und deren Bewertung unterscheidet. Die Fähigkeit, zwischen der nüchternen Beschreibung des Sachverhaltes und seiner Beurteilung zu unterscheiden, ist aber nicht nur in der Rechtsanwendung von entscheidender Bedeutung, sondern auch im Journalismus. Wenn beispielsweise berichtet wird, ein bestimmtes Medium betreibe "Desinformation", dann ist dies eine Nicht-Information, solange nicht ein Sachverhalt mitgeliefert wird, der sich unter den wertenden Begriff „Desinformation“ subsumieren lässt.
Fehlende Definition
Beim Wort „Verschwörungstheorie“ kommt erschwerend hinzu, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen dieses abstrakten Oberbegriffes nicht generalisierend geklärt sind. Anders ist dies, um ein einfaches Beispiel zu wählen, beim Begriff "Räuber". Dies ist ein Dieb, der das Diebesgut mit Gewalt entwendet. Wenn sich also ein Ladendieb etwas heimlich und unentdeckt in die Jackentasche steckt, wäre es falsch, ihn als Räuber zu bezeichnen, weil es am Merkmal der Gewaltanwendung fehlt. Wie aber stelle ich fest, ob Daniele Ganser ein Verschwörungstheoretiker oder gar ein "Verschwörungsguru" ist? Welchen konkreten Voraussetzungen unterliegt die Verwendung dieser Wörter?
Mit meiner gewohnten juristischen Denkweise komme ich also nicht weiter, um mich dem Phänomen zu nähern und ich muss eine andere Methodik des Zuganges finden. Hierbei bietet es sich an, deskriptiv, also beschreibend, zu erfassen, in welchen Bereichen des öffentlichen Diskurses das Label „Verschwörungstheorie“ zum Einsatz kommt. Ich orientiere mich insoweit an den Beobachtungen von Ansgar Schneider, der drei Themenkomplexe unterscheidet.
Geheime Weltregierung
Als „Verschwörungstheorie“ gelten zunächst falsche Erzählungen über geheime Mächte, die im Verborgenen wirken und unser aller Schicksal bestimmen. Die angeblichen Akteure in diesen Fehldeutungen sind Juden, Freimaurer und Illuminaten. Neuerdings soll auch Bill Gates dabei sein, eine geheime Weltregierung zu errichten. Am wirkmächtigsten erwies sich die Behauptung einer jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung, auf deren Grundlage die Shoa und der rassenideologische Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion stattfanden.
Das prägende Merkmal dieser Kategorie von Verschwörungstheorie ist ihr struktureller Rassismus, der sich im Glauben an die tatsächlich nicht vorhandene Macht einer willkürlichen Personengruppe offenbart. Nicht nur die Gedankengebäude, die solche rassistisch motivierten „Verschwörungstheorien“ hervorbringen, sind extrem gefährlich. Gefährlich ist es auch, derart rassistisches Denken nicht als Rassismus, sondern verharmlosend als Verschwörungstheorie zu bezeichnen.
Pseudowissenschaftliche Spinnerei
Als Verschwörungstheorie gelten auch bestimmte Beschreibungen der belebten und unbelebten Natur, die wissenschaftlich nicht haltbar sind. Es gibt zum Beispiel keine widerspruchsfreie und falsifizierbare, sprich wissenschaftliche Erklärung dafür, dass Merkel und Obama Reptilien wären oder dass die Erde flach sei. Verschwörungstheorien dieser Gruppe weisen gemeinsame Merkmale mit Religionen auf, soweit diese ebenfalls wissenschaftlichen Unfug verbreiten.
Doch während es beispielsweise ohne Verlust an gesellschaftlichem Ansehen möglich ist zu behaupten, Maria habe jungfräulich einen Sohn geboren, der gleichzeitig sein eigener Vater war, gilt man schon fast als geisteskrank, wenn man sich darauf festlegt, dass Echsen in Menschengestalt unter uns weilen. Zentrales Merkmal dieses Bereiches von Verschwörungstheorien ist daher, dass ihre Vertreter als Spinner gelten, soweit der pseudowissenschaftliche Unsinn, den sie verbreiten, gesellschaftlich geächtet ist.
Ereignisverschwörungen
Schließlich gelten als Verschwörungstheorie Überlegungen und Analysen zu konkreten gesellschaftlichen, politischen oder kriminellen Ereignissen, soweit sie von der regierungsamtlichen Sichtweise abweichen. Genannt seien insbesondere die Themenkomplexe Kennedymord, 9/11, NSU und – momentan im Zentrum der Debatte stehend – „Corona“. Zentrales Merkmal dieser Gruppe von Verschwörungstheorien sind die komplexen Sachverhalte, die den Ereignissen zugrunde liegen. Der Begriff Verschwörungstheorie wird dabei autoritär im Kampf um die Deutungshoheit bezüglich einzelner Fakten und ihrer Bewertung verwendet.
Um missliebige Äußerungen zu diskreditieren, werden sie mit dem Label Verschwörungstheorie gekennzeichnet. Die negativen Konnotationen der beiden anderen Arten von Verschwörungstheorie – Rassismus einschließlich Antisemitismus und Pseudowissenschaft – werden auf diese Weise an faktenbasierte Aussagen zu konkreten „Ereignisverschwörungen“ angeheftet. Und da die meisten Menschen Rassismus und pseudowissenschaftliche Spinnerei völlig zu Recht ablehnen, wenden sie sich auch von Fakten ab, denen eben dieser Makel anhaftet.
Warum „Verschwörung“ als Klammerwort?
Die Verklammerungstechnik erklärt zwar, wie der Vorwurf des Rassismus und der Pseudowissenschaft an sachlichen Äußerungen zu konkreten Ereignissen hängen bleibt. Unklar bleibt aber, warum dafür ausgerechnet der Begriff „Verschwörung“ als Klammerwort herhalten musste. Warum heißt es nicht „Pseudowissenschaft“, wenn es um die Stigmatisierung von kritischen Äußerungen zu 9/11 geht? Oder warum wird die sachliche Auseinandersetzung mit den Argumenten derer, die der Auffassung sind, dass die Coronaschutzmaßnahmen auf keiner wissenschaftlich fundierten Datenbasis stehen und zudem in verfassungsrechtlicher Hinsicht übers Ziel hinausschießen, nicht mit dem Vorwurf der „Rassismustheorie“ geblockt?
Oder anders gefragt: Was hat das, was man dem Verschwörungstheoretiker vorwirft, mit dem Wort Verschwörung zu tun? Wer soll sich beispielsweise in Bezug auf die Behauptung, die Erde sei flach, eigentlich wozu verschworen haben? Die Erde ist und bleibt kugelförmig, auch wenn sich noch so viele Menschen zusammenschließen und behaupten, sie sei flach. Und worin genau liegt die Verschwörung, wenn man darauf hinweist, dass WTC 7 über einen Zeitraum von 2,25 Sekunden frei, also mit einer Beschleunigung von 9,81 m/s² fiel und daraus schlussfolgert, dass dies nur durch absichtliche Zerstörung des Gebäudes erklärbar ist? Und worin liegt die Verschwörung begründet, wenn jemand feststellt, dass die Privatperson Bill Gates über keine demokratische Legitimation verfügt, 7 Milliarden Menschen impfen zu lassen?
Hinter dem Begriff „Verschwörung“ verbirgt sich daher eine tiefergehende Bedeutung, der ich nachfolgend auf den Grund gehen möchte.
Karl Popper und die Verschwörungstheorie
Die Erzählung über die Geschichte von Verschwörungstheorien beginnt aus (west)europäischer Perspektive meist mit dem Philosophen Karl Popper. In seinem Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ beschäftigte er sich unter anderem mit der Frage, ob einzelne Personen fähig sind, eine ganze Gesellschaft planmäßig zu steuern. Popper verneinte dies und argumentierte dabei mit einer Binsenweisheit: In einer komplexen und arbeitsteiligen Gesellschaft können Einzelne unmöglich jedes Detail kontrollieren und steuern. Die Theorie vom allumfassenden Strippenzieher ist daher falsch, wobei Popper diese falsche These „Verschwörungstheorie“ nannte.
Für Popper war die Verschwörungstheorie also ein von ihm selbst widerlegtes Welterklärungsmodell. Poppers Erkenntnis ist im Grunde viel zu banal, um ihr eine größere wissenschaftliche Bedeutung beizumessen. Wichtig an dem von Popper geprägten Begriff ist jedoch, dass er bei ihm allein im Singular Verwendung fand. Popper machte klar, dass es die allumfassende Weltverschwörung nicht geben kann. Verschwörungstheorien im Plural tauchten in seinem Werk folgerichtig nicht auf.
Verschwörungstheorien im Plural
Dies änderte sich spätestens mit dem Kennedy-Mord. Aus Poppers singulärer Verschwörungstheorie wurden Verschwörungstheorien im Plural, welche die CIA gemäß des berühmten Dokumentes 1035-960 wie Pilze aus dem Boden sprießen sah und die es zur Aufrechterhaltung der Einzeltätertheorie zu unterdrücken galt. Eine Verschwörungstheorie war nun nicht mehr nur die absurde Vorstellung, Juden, Illuminaten oder Freimaurer würden die Welt im Verborgenen regieren. Eine Verschwörungstheorie stellte es jetzt schon dar, Zweifel an der regierungsamtlichen Sicht auf ein bestimmtes Ereignis zu äußern, wobei das Etikett allein zu dem Zwecke aufgeklebt wurde, um eine negative Konnotation zu erreichen.
Nach 9/11 erlebte der Begriff „Verschwörungstheorie“ mit all seinen heute gebräuchlichen Ableitungen (-ideologie, -guru, -geraune usw.) eine weitere Verschärfung seiner negativen Bedeutung und erfüllt mittlerweile die Funktion, welche Wörtern wie „Ketzer“ oder „Häretiker“ in unaufgeklärten Zeiten zugeschrieben wurde. Aktuell wird jeder Widerspruch gegen das Narrativ, wonach SARS-CoV-2 ein gefährliches Virus sei, das es zu bekämpfen gelte, bis die Rettung in Form des Impfstoffes naht, als Verschwörungstheorie gebrandmarkt. Es geht nicht mehr nur um die Stigmatisierung des Andersdenkenden, sondern auch um ein Mittel, sich der notwendigen inhaltlichen Diskussion darüber zu entziehen, ob die dem herrschenden Narrativ zugrundeliegenden Annahmen auch tatsächlich zutreffen.
Man gibt vor, mit jedem zu reden, solange es kein Verschwörungstheoretiker ist. Ein Verschwörungstheoretiker ist wiederum jeder, mit dem man sich inhaltlich nicht auseinandersetzen möchte. Mittels dieses perfekten Zirkelschlusses verkommt die Meinungsfreiheit, die für die Demokratie konstitutiv ist, zur Farce.
Sorge um Verlust der Wortbedeutung
Dabei ergibt sich die stigmatisierende Verwendung des Begriffes allein schon aus der Tatsache, dass offen die Sorge geäußert wird, die ausgrenzende und abschreckende Wirkung könnte verloren gehen. So gibt Michael Butter, der im deutschen Sprachraum wohl meistzitierte „Experte“ für Verschwörungstheorien, unumwunden zu:
„Nun sind Social Media nur eine der Säulen, auf denen das Mediensystem von Verschwörungstheoretikern fusst. Die andere sind Websites wie das eingangs erwähnte Onlinemagazin «Rubikon». Die Seite ist Teil des alternativen Mediensystems, das sich in den letzten Jahren herausgebildet hat. In dieser Gegenöffentlichkeit haben Verschwörungstheorien jedes Stigma verloren.“(1)
Michael Butters entlarvende Einschätzung setzt die stigmatisierende Funktion des Begriffes „Verschwörungstheorie“ voraus, erklärt aber nicht, woraus die Stigmatisierung resultiert. Was ist also der Grund, dass schon das bloße Hinterfragen von Ereignissen wie 9/11 zum gedanklichen Sperrgebiet erklärt wird? Wäre das Wort „Verschwörung“ selbst völlig harmlos, hätte die CIA noch so viele Memoranden schreiben und noch so viele Verklammerungen mit pseudowissenschaftlichem Unfug und rassistischen Auffassungen herstellen können. Es hätte schlicht keine Wirkung entfaltet.
Die stigmatisierende Wirkung lässt sich also nicht allein mit dem negativen Image der verklammerten Themenkomplexe (Rassismus und Pseudowissenschaft) erklären, sondern ist zusätzlich in der besonderen Bedeutung des Wortes „Verschwörung“ selbst zu suchen.
Um diese zu erfassen, half mir ausgerechnet Michael Butter. Er betont, dass in den USA Verschwörungstheorien – also das, was er dafür hält – zur politischen Kultur gehörten und erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine – wie er es nennt – "Delegitimierung" eingesetzt habe. Zuvor war nach seiner Auffassung "jeder US-Präsident bis Dwight D. Eisenhower Verschwörungstheoretiker". Als Beispiel verweist er auf Abraham Lincoln, der dem unbegründeten Glauben angehangen habe, Sklavereibefürworter hätten die Kontrolle über die Regierung übernommen.
Unklar bleibt dabei zunächst, woraus Michael Butter die behauptete „Delegitimierung“ ableitet, denn bis heute gehört es zur politischen Kultur in den USA, an Erzählungen zu glauben, die alle Merkmale von Butters Definition einer (falschen) Verschwörungstheorie erfüllen. Die Hysterie um „Russiagate“ zeigt dies deutlich:
Alles ist geplant
Das erste Merkmal in Butters untauglichem Definitionsversuch lautet: Alles ist geplant. Dies ist in den Augen der Gläubigen an Russiagate zweifellos erfüllt. Putin plante, die Präsidentschaftswahlen in den USA im Jahre 2016 so zu beeinflussen, dass am Ende Trump gewinnt.
Nichts ist, wie es scheint
Zu einer richtig schrägen Verschwörungstheorie gehört nach Butters Definition weiterhin das Merkmal: Nichts ist, wie es scheint. Auch das ist im Falle von Russiagate erfüllt. Denn mindestens zwei Aspekte sind nach Auffassung derjenigen, die in Putin den Verantwortlichen für Trumps Wahlsieg sehen, nicht so, wie es oberflächlich erscheint.
Erstens scheint es so zu sein, dass Hillary Clinton die Wahl deshalb verlor, weil potentielle Wähler der Demokraten lieber Trump oder notfalls gar nicht wählten, anstatt sich für eine kriegsbefürwortende und mit der Wall-Street verbandelte Kandidatin zu entscheiden. Zur negativen Charakterisierung von Hillary Clinton durch die Wähler trugen auch die von WikiLeaks veröffentlichten E-Mails bei, die unter anderem offenbarten, wie Clinton ihren innerparteilichen Konkurrenten Bernie Sanders mit allen nur erdenklichen Tricks ausbootete.
Diese Wahrheit ist in den Augen der Gläubigen von Russiagate aber nur eine Scheinwahrheit. Tatsächlich sei es so gewesen, dass Hillary Clinton die Wahl deshalb verlor, weil Putin es im Geheimen geschickt eingefädelt hatte, sie pünktlich zur Wahl in einem üblen Licht dastehen zu lassen, indem er ihre E-Mails auf raffinierte Weise klaute und heimtückisch veröffentlichte.
Und zweitens erweckt es nach Ansicht der Russiagate-Verschwörungstheoretiker nur den Anschein, dass das Trump-Team die Firma Cambridge Analytica (2) anheuerte, diese die Besonderheiten des US-Wahlsystems ausnutzte und durch gezielte Auswertung von Wählerdaten mit einer zielgenauen Fakekampagne jene entscheidenden 77.000 Stimmen abwarb, die in den Swingstates den Ausschlag zugunsten Trumps ergaben. In Wahrheit spielte das alles keine Rolle. Die richtige Wahrheit hinter dem falschen Anschein besagt, dass Putin mit Hilfe seiner Trollarmee die Wähler massiv umstimmte.
Clintons Wahlniederlage war also im Wesentlichen die Folge zweier kumulativer Ursachen. Eine große Anzahl von Wählern erkannte selbst die Unfähigkeit und Untragbarkeit von Hillary Clinton und zusätzlich wurden ausgewählte Personen mit Hilfe von Cambridge Analytica gezielt zugunsten von Trump manipuliert. Anhängern der Russiagate-Verschwörungstheorie sind solche komplexen Beschreibungen der Realität viel zu kompliziert. Sie suchen nach einfachen Wahrheiten und die lautet schlicht: Der Russe war´s!
Alles ist mit allem verbunden
Auch das letzte Kriterium zur Butterschen Probe, ob eine schwachsinnige Verschwörungstheorie vorliegt, ist in beeindruckender Weise erfüllt. Es besagt: Alles ist mit allem verbunden. Das ist bei Russiagate ganz eindeutig. Egal, um was es geht, überall steckt Putin dahinter.
Von einer „Delegitimierung“ verschwörungstheoretischen Denkens kann also keine Rede sein. Was aber deutlich wird, und insoweit sind die Ausführungen von Michael Butter völlig ohne jeden Sarkasmus sehr hilfreich, ist die im Vergleich zum deutschen Sprachraum gänzlich anders gelagerte Bedeutung des Wortes „Verschwörung“ beziehungsweise „Conspiracy“. Reale Verschwörungen sind Bestandteil des eigenen Handelns (Iran-Contra-Affäre, Bewaffnung der „Rebellen“ in Syrien, Sturz demokratisch gewählter Regierungen von Mossadegh über Lumumba, Pinochet etc.). Und umgekehrt wittert man hinter dem Handeln des politischen Gegners schnell eine Verschwörung. Nach dem Motto: Was ich selbst bereit bin zu tun, traue ich auch meinem Gegner zu.
Conspiracy als Straftat
Die überragende Bedeutung von realen eigenen Verschwörungen und eingebildeten Verschwörungen des Gegners in der politischen Praxis der USA schlägt sich auch im US-amerikanischen Strafrecht nieder. Im deutschen Strafrecht gibt es hingegen das Delikt der Verschwörung nicht und nach §30 Absatz 2 StGB ist allein die Verabredung zur Begehung eines Verbrechens strafbar. In der strafrechtlichen Praxis führt diese Norm allerdings ein Schattendasein, das heißt es kommt kaum zu Anklagen und es sind nur wenige Urteile veröffentlicht.
Ganz anders stellt sich die Situation in den USA dar. Dort existieren unzählige Normen, die den Tatbestand der „Conspiracy“ unter Strafe stellen. Conspiracy bedeutet in diesem Zusammenhang das Herstellen und Aufrechterhalten einer Übereinkunft zwischen zwei oder mehr Personen, um gemeinschaftlich ein bestimmtes Tatziel zu erreichen. Diese weite Vorverlagerung von strafrechtlicher Relevanz in den Bereich von vorbereitenden Absprachen dürfte seinen Grund in dem haben, was Michael Butter als typisch für die politische Kultur der USA beschreibt: Die verbreitete Paranoia, von Gegnern umzingelt zu sein, die im Geheimen wirken, wobei diese Paranoia zumindest auch das reale eigene konspirative Handeln spiegelt. Conspiracy unter Strafe zu stellen, zeugt also von wenig Vertrauen in andere Menschen und sagt viel über das eigene Menschenbild aus.
Erhellend ist in diesem Zusammenhang eine Untersuchung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages. Demnach ist Conspiracy in unterschiedlichen Abstufungen strafbar und wird im geschrieben Recht und im common-law sowie auf Bundes- und Staatenebene behandelt.
Es wird damit klar, dass der Vorwurf, ein Verschwörer zu sein, in den USA ein völlig anderes Gewicht als in Deutschland hat. Man kann es vielleicht mit der Problematik des Dopings im Sport vergleichen. Doping ist gängige Praxis, aber öffentlich heucheln alle Beteiligten, wie schlimm sie doch Doping finden. Dem missliebigen Gegner wird unterstellt, dass er sich unlauterer Mittel bediene, während der eigene Erfolg das Ergebnis außergewöhnlicher Anstrengung sei. Die größte Schande besteht nicht darin, zu dopen, sondern des Dopings überführt zu werden. Die Geschichte von Lance Armstrong ist hier beispielhaft zu nennen. Die Besessenheit, Rücksichtslosigkeit und Intrigenhaftigkeit, mit der er sich aus purem Egoismus als sauberen Helden inszenierte, erinnert doch stark an die Eigenschaften, auf die es auch im US-amerikanischen Politikbetrieb ankommt.
Vorwurf der Verschwörungstheorie als präventive Verteidigung
Ein Verschwörer zu sein, steht auf einer Negativskala wahrscheinlich direkt hinter Kinderschänder. Dementsprechend ist es natürlich auch eine Frage der eigenen Ehre, nicht als Verschwörer zu gelten. Wer eine andere Person als Verschwörer bezeichnet, geht also ein hohes Risiko ein, weil er damit rechnen muss, dass sich der Beschuldigte gegen den Vorwurf mit allen Mitteln zur Wehr setzen wird.
Noch wirkungsvoller, als sich gegen einen bereits erhobenen Konspirationsvorwurf zur Wehr zu setzen, ist eine präventive Verteidigungsstrategie, welche darauf abzielt, dass der Vorwurf gar nicht erst geäußert wird. Steht der Vorwurf der Verschwörung erst einmal im Raum, muss der Beschuldigte reagieren und sich rechtfertigen. Besser ist es also, eine Situation zu schaffen, in der man sich gar nicht erst in die Defensive drängen lässt.
Effektiv lässt sich dies mit einer Drohung erreichen: Demjenigen, der den Vorwurf der Verschwörung äußern könnte, wird bereits im Voraus klar signalisiert, dass dies negative Folgen haben wird. Man gibt also vorbeugend die Parole aus: „Wage es ja nicht, mich als Verschwörer zu bezeichnen, denn dann bekommst du es mit mir zu tun!“ Und genau dieser präventiven Verteidigungsstrategie liegt die von der CIA nach dem Kennedymord ausgegebene Marschroute zugrunde, Kritik an der Einzeltäterversion als „Verschwörungstheorie“ zu bezeichnen.
Denn wenn es kein Einzeltäter war, waren es mindestens zwei Täter. Und waren es mindestens zwei Täter, handelt es sich zwingend um eine Conspiracy. Handelt es sich aber um eine Conspiracy, weist diese mangels anderer vernünftiger Erklärungsansätze in Regierungskreise. Wird nun die Regierung beschuldigt, sich gegen ihren eigenen Präsidenten verschworen zu haben, stellt dies den schlimmsten aller denkbaren Vorwürfe dar. Und gegen den schlimmsten aller denkbaren Vorwürfe wird sich die Regierung mit allen nur denkbaren legalen und illegalen Mitteln zur Wehr setzen. Also soll niemand erst versuchen, sich auch nur an den Anfang dieser Gedankenkette zu begeben und zu behaupten, Lee Harvey Oswald könne die Tat nicht alleine begangen haben.
Intellektuelles Sperrgebiet
Selbst wenn gar kein konkreter Vorwurf gegen irgendeine Person erhoben wird, sondern allein die Frage gestellt wird, wie es sein kann, dass der vermeintliche Einzelschütze die Kugel von hinten abfeuerte und diese das Opfer von vorne traf, ist das, was Rainer Mausfeld „intellektuelles Sperrgebiet“ nennt, bereits übertreten. Fakten dürfen keine Rolle spielen, weil schon die nüchternen Fakten eine Kausalkette in Richtung des ungeheuerlichen Vorwurfes der Verschwörung in Gang setzen.
Diese Prinzipien lassen sich ohne weiteres auch auf 9/11 übertragen. Kurz nach den Anschlägen gab G.W. Bush die Richtung vor, indem er vor der UNO verkündete:
„Lasst uns niemals frevelhafte Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit den Anschlägen des 11. September tolerieren, boshafte Lügen, die bezwecken, die Schuld von den Terroristen abzulenken.“
Es war die Drohung, dass niemand auf die Idee kommen solle, ihn und seine Regierung auch nur ansatzweise des ungeheuerlichen Vorwurfes der Conspiracy auszusetzen. Und zu dieser Beschuldigung wird bereits angesetzt, wenn man sich nur mit den empirischen Daten befasst:
Wenn WTC 7 über einen Zeitraum von 2,25 Sekunden frei fiel, dann war dies nur möglich, wenn es jedenfalls für diesen Zeitraum keinerlei die Beschleunigung verzögernde, also bremsende Gebäudestruktur mehr gab. Dies setzt voraus, dass alle beim Einsetzen des freien Falles noch vorhandenen senkrechten Stahlsäulen gleichzeitig nachgaben und keinerlei Widerstand mehr erzeugten. Dabei spielt es keine Rolle, ob, wie von Vertretern der „offiziellen“ Theorie behauptet, die innere Struktur bereits vollständig versagt habe und nur noch die äußere Hülle von WTC 7 vorhanden gewesen sei, als der freie Fall einsetzte.
Selbst der Internetpranger Psiram, der sich als entschiedenster Kämpfer gegen jede Art von angeblicher Verschwörungstheorie versteht, gibt zutreffend an, dass der äußere Ring aus 58 senkrechten Säulen bestand, so dass auch ein isolierter Freifall der Gebäudehülle nur dann möglich wäre, wenn zumindest diese 58 Säulen gleichzeitig jeden Widerstand verloren. Das gleichzeitige Totalversagen von mindestens 58 tragenden Säulen weist wiederum zwingend auf einen absichtlichen menschlichen Eingriff und damit auf eine Conspiracy hin. Da es eine solche nicht geben darf, hat auch der Fakt des freien Falles keine Rolle zu spielen (3) und ist, aus diesem Blickwinkel heraus konsequent, eine bösartige Verschwörungstheorie.
Dieselbe Strategie auch bei Corona
Auch im öffentlichen Diskurs um die Maßnahmen zur Eindämmung von SARS-CoV-2 bzw. Covid-19 lässt sich die präventive Verteidigungsstrategie erkennen: Wenn die virologischen und epidemiologischen Daten, auf denen die massivsten Grundrechtseingriffe in der Geschichte der Bundesrepublik beruhen, bewusst falsch interpretiert oder gar nicht erst erhoben wurden oder wenn auf Basis zutreffender Daten verfassungsrechtlich überzogene Maßnahmen eingeleitet wurden, dann liefe dies in der Konsequenz auf den drastischen Vorwurf hinaus, dass sich die handelnden Politiker und Wissenschaftler gegen die verfassungsgemäße Ordnung dieses Landes verschworen haben.
Und da die leitgebenden Medien den Regierungskurs zumindest anfangs nahezu kritiklos unterstützten, fällt jede Kritik am Handeln der Regierung auf sie selbst zurück. Selbst sachliche und faktenbasierte Kritik wird deshalb reflexartig mit dem Begriff „Verschwörungstheorie“ gekontert und dabei mit steigernden, aber inhaltlich völlig unsinnigen Adjektiven wie „krude“, „wirr“, „aberwitzig“ ausgeschmückt. Dies ist nichts anderes als die Kapitulation vor einer inhaltlichen Auseinandersetzung, selbstgefällig vorgetragen aus der Position des Stärkeren.
Die Umdeutung von Tatsachen zu geächteten Meinungen
Wer also Anderen in Bezug auf komplexe und politisch brisante Ereignisse die Verbreitung von „Verschwörungstheorien“ vorwirft, gibt damit ungewollt zu erkennen, gerade in denjenigen Gedankengebäuden gefangen zu sein, in denen sich angeblich „Verschwörungstheoretiker“ befinden: in simplen Dualismen von schwarz und weiß beziehungsweise Freund und Feind (das Virus ist böse und muss weg), in vereinfachenden Erklärungen komplexer Zusammenhänge (das Virus ist neu, hoch ansteckend, besonders gefährlich und deshalb ist bis zur Einführung eines Impfstoffes jedes Mittel recht) sowie in der Ausklammerung aller medizinischen und juristischen Fakten, die dem eigenen Dogma widersprechen. In der Psychologie nennt man dies wohl Projektion. Ich nenne es ein Prinzip, mit dessen Hilfe Tatsachen willkürlich zu geächteten Meinungen umgedeutet werden. Das ist hochgradig unwissenschaftlich sowie gefährlich ideologisch.
Für jeden Einzelnen, der sich an den aktuellen Coronadebatten beteiligt, bedeutet dies: Argumentieren Sie stets sachlich und haben Sie auch dann keine Angst, Ihre Meinung zu vertreten, wenn Sie als Verschwörungstheoretiker beschimpft werden. Nicht Sie sind unbelehrbar, sondern oftmals sind es diejenigen, die Ihnen dies unterstellen.
Über den Autor: Carsten Forberger, Jahrgang 1973, studierte in Dresden Rechtswissenschaft und ist seit 2000 als Rechtsanwalt tätig. Er ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und schreibt unter anderem für das Magazin Rubikon.
Anmerkungen
(1) Michael Butter: Die Methode Ganser, Republik, 13. April 2019
(2) Die äußerst sehenswerte und aufschlussreiche Doku „Fake America great again“ ist in der ARTE-Mediathek nicht mehr einsehbar und über YouTube nicht verfügbar.
(3) Für Michael Butter ist der freie Fall von WTC 7 über einen Zeitraum von 2,25 Sekunden ein Umstand, den man „getrost ignorieren“ (!) könne: Michael Butter: „Nichts ist, wie es scheint. Über Verschwörungstheorien“, Suhrkamp 2018, S. 78
Source multipolar-magazin.de