Legalisierter Landraub

Legalisierter Landraub

www.rubikon.news

Nun haben die USA den Termin für die Annexionspläne Netanjahus doch nicht freigegeben. Ihre Unterhändler, der US-Botschafter in Israel David Friedman und der Nahostgesandte Avi Berkowitz, ein Jugendfreund von Trumps Schwiegersohn Jared Kushner, haben die Uneinigkeit in der jungen israelischen Regierungskoalition und die negativen Reaktionen weltweit gegen die Annexion wohl bewogen, die Pläne noch einmal zu überarbeiten. Netanjahu äußerte sich dazu, man müsse über das Thema Souveränität noch sprechen, womit er bestimmt nicht die Souveränität Israels, sondern die Souveränität der dann noch verbleibenden palästinensischen Landflecken meinte, die nach dem Willen Trumps den versprochenen Staat Palästina ausmachen sollen.

Soweit bisher bekannt, konzentrieren sich die Annexionspläne Israels auf die im Oslo-Abkommen definierte Zone C, die circa 60 Prozent des Westjordanlands ausmacht und bereits unter ausschließlicher israelischer Kontrolle steht. Sie umfasst die drei großen Siedlungsblöcke Ariel im Norden, Maale Adumin in der östlichen Verlängerung von Jerusalem und Gush Etzion bei Bethlehem sowie das fruchtbare Jordantal. Diese Gebiete werden auf jeden Fall im Annexionsplan bleiben. Die Siedlungsblöcke sind bereits durch Mauern und Sperrzäune von ihrem Umland getrennt.

Der Siedlungsblock Maale Adumin zerteilt jetzt faktisch das Westjordanland in Nord und Süd, die nur unter großem Zeitaufwand und Umgehung zerstörter oder gesperrter Straßen, Checkpoints und Militärkontrollen gegenseitig erreicht werden können. Während sich die Israelis auf einem perfekten für sie allein nutzbaren Straßennetz bewegen können, sind für die palästinensische Bevölkerung getrennte Straßen gebaut worden, die jedoch der Willkür der Militärpolizei mit Kontrollen und Sperrungen ausgeliefert sind. Sie wurden unter anderem mit deutscher Finanzierung gebaut, und man sollte sich nicht darüber täuschen, dass sich die deutschen Entscheider nicht darüber im Klaren waren, dass sie mit ihrer „humanitären Hilfe“ für die Palästinenser gleichzeitig dieses System der Apartheid unterstützt haben. Ohne israelische Genehmigung kann in der Zone C sowieso kein Projekt begonnen werden.

Auch im Jordantal haben sich die Israelis mit einem gnadenlosen Säuberungsprogramm das Land genommen, nach der Devise: Land ohne Volk.

Dort leben von den ursprünglich 250.000 Palästinenserinnen und Palästinensern nur noch 70.000. Sie leben überwiegend in Jericho, da ihnen 90 Prozent des Tals höchstens als Lohnarbeiter in den israelischen Farmen noch zugänglich sind. Wer nicht freiwillig das Land verließ, wurde durch das Militär vertrieben. Die Weltbank schätzt, dass allein durch diesen Landraub den Palästinensern circa 3, 4 Mrd. US-Dollar jährlich an Einnahmen entgehen. Zudem sind sie mit ihren Produkten aus den restlichen 10 Prozent des Bodens gegenüber den israelischen Waren nicht konkurrenzfähig.

An diesen Verhältnissen wird sich scheinbar auch mit einer Annexion nicht viel ändern, außer, dass die annektierten Palästinenserinnen und Palästinenser nun die Staatsbürgerschaft Israels erhalten — allerdings wohl nur dritter Klasse. Denn ein Wahlrecht, wie die jetzigen palästinensischen Israelis es haben, wird ihnen nicht verliehen.

Das war allen Parteien des Bundestages bekannt, als sie am 1. Juli zu einer kurzen Debatte im Plenarsaal zusammenkamen. Schließlich hatten sie seit über 50 Jahren den Prozess der Kolonisierung der 1967 besetzten Gebiete mit Vertreibung (ethnic cleansing), Enteignung und Zerstörung, mit Kriegen und zunehmender Gewalt verfolgt — zwar mit Kritik, aber ohne diesem, ihre ewig beschworenen Werte verletzenden Unwesen, etwas wirksam entgegenzusetzen. Die Annexionspläne hat Netanjahu erstmals im April 2019 öffentlich geäußert, und seitdem ist die Gewalt der Siedler und des Militärs gegen die palästinensische Bevölkerung extrem eskaliert.

Wenn auch in der deutschen Presse davon nur wenig und gelegentlich berichtet wurde, in den wöchentlichen Berichten der United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (UNOCHA) werden die fast täglichen Angriffe der Siedler, die Übergriffe des Militärs, die Zerstörung der Obsthaine und Stallungen sowie die Demütigungen der Bevölkerung dokumentiert und sind dort nachzulesen.

Unverbrüchliche Freundschaft

In den Anträgen und Redebeiträgen der Parlamentarier aller Parteien ist von diesen beschämenden Zuständen keine Rede. Wie bei jeder Reise nach Israel der Besuch des Holocaust-Museums Yad Vashem die erste Pflichthandlung ist, so beginnt jeder Beitrag im Bundestag mit einer tiefen Verneigung vor dem Staat Israel, wobei der Zusatz „der einzigen Demokratie des Nahen Ostens“ selten fehlt, dem Bekenntnis zur eigenen Verantwortung für die Existenz und Sicherheit Israels und der Bekräftigung unverbrüchlicher Freundschaft und einzigartiger Beziehungen.

Derartige Höflichkeiten bräuchten nicht hervorgehoben zu werden, wenn auch ähnlich freundliche Worte für die Palästinenser gefunden würden. Doch kein Wort des Verständnisses für ihre Situation. Sie werden erst auf der zweiten Seite im zehnten Absatz des Antrags von CDU/CSU und SPD, der schließlich vom Bundestag verabschiedet worden ist, erwähnt. Die Palästinensische Behörde wird dafür gerügt, „einseitig für die Anerkennung der Staatlichkeit Palästinas zu werben, die Gespräche für eine verhandelte Zweistaatenlösung erschwert“. Eine Ohrfeige für die Palästinenser und gleichzeitig eine Frechheit, mit der die Überschrift des Beschlusses „...Am Ziel der verhandelten Zweistaatenlösung festhalten“ zur Lüge gestempelt wird.

Seit 1948 warten die Palästinenserinnen und Palästinenser darauf, dass ihnen die von der UNO in Resolution 181 versprochene Staatlichkeit von Israel und den UNO-Staaten zuerkannt wird. Mit der Unterstützung der Bundesrepublik hat dies Israel bis heute verhindern können. Den Palästinensern nun die eigenen Bemühungen um Anerkennung als Erschwerung einer Zweistaatenlösung vorzuwerfen und zugleich die Bundesregierung aufzufordern, derartige Initiativen der Palästinenser zu verhindern, ist ein dreistes Stück diplomatischer Unverschämtheit, der sich die FDP-Fraktion in ihrem Antrag leider angeschlossen hat.

Dieser Passus allein hätte genügen müssen, diesen Antrag abzulehnen, statt wie Bündnis 90/Die Grünen und die Linke ihn mit einer Stimmenthaltung passieren zu lassen. Nur die Fraktion der Linken fordert die schon lange fällige Anerkennung als Staat, wenn auch erst für den Fall der vollzogenen Annexion. Da diese auf jeden Fall rechtlich nichtig und unbeachtlich ist, stieße die Anerkennung zumindest nicht auf rechtliche Grenzen, sie würde auch die annektierten Gebiete umfassen.

Außer Vorwürfen und Mahnungen fällt kein einziges freundliches Wort über die Palästinenser, sodass man vergessen könnte, dass schließlich sie die Opfer der jahrzehntelangen Besatzung und anstehenden Annexion sind und nicht die Israelis.

Zwar fehlt auch in diesem Beschluss die Standardformel von „einem jüdischen und demokratischen Staat Israel und einem unabhängigen, demokratischen und lebensfähigen palästinensischen Staat“ nicht, aber der Beschluss sorgt sich allein um Existenz und Sicherheit des jüdischen Staates. Das Mantra der „Zweistaatenlösung“ erhält auch mit diesem Beschluss keine Schubkraft, da sich die Koalition nicht darauf einigen konnte, die notwendige Grenzziehung mit der „Grünen Linie“ von 1967 zu konkretisieren. Damit hält der Bundestag die Tür für Israel auf, die demnächst annektierten Gebiete auch zu einem legalen, vertraglich ausgehandelten Teil Israels zu machen.

Allein Bündnis 90/Die Grünen haben diese Grenze in ihrem Beschlussantrag zur Grundlage eines Staatenbündnisses gemacht. Sie fordern auch eine gerechte und faire Vereinbarung über die Flüchtlingsfrage, der sich Israel immer verwehrt hat, und Jerusalem als Hauptstadt beider Staaten, die nach dem Trump-Plan ganz an Israel gehen würde. Diese Forderungen sind bei der Linken unstrittig, zu dem fordern sie gemeinsam mit den Grünen ein Ende des völkerrechtswidrigen Siedlungsbaus. Von all dem steht in dem schließlich mit der Koalitionsmehrheit abgestimmten Beschluss nichts.

Linke mit eigenem Vorschlag

Alle Fraktionen fordern den Verzicht auf die geplanten Annexionen, dass sie völkerrechtswidrig sind, kann nicht bestritten werden. Mit unterschiedlichen Begründungen sind alle Fraktionen außer der AfD dazu einheitlicher Meinung. Nur über die Mittel, mit denen dieses Ziel erreicht werden kann, herrscht keine Einigkeit. Während CDU/CSU und SPD gemeinsam mit der FDP ihre Position in den Bundestagsbeschluss eingebracht haben, keine Sanktionen zu fordern und jede Diskussion dazu zu unterlassen. Lassen wir die Widersprüchlichkeit zu ihrer Sanktionsfreudigkeit gegen Syrien, den Iran, Russland et cetera beiseite, immerhin fordert die Linke, die Militärkooperation und Waffenexporte einzustellen.

Von der EU fordert sie, „notwendige und angemessene Reaktionen“ gegenüber Israel zu ergreifen und das EU-Assoziierungsabkommen auszusetzen, — alles jedoch erst im Falle der Annexion.

Das sind in der Tat keine Sanktionen, die auch in der Fraktion umstritten sind, aber immerhin ein Ansatz, den notwendigen Druck auf Israel zu erhöhen, ihre politisch wie völkerrechtlich unhaltbare Position zu ändern.

Die Linke ist es auch, die den bereits lange diskutierten und sinnvollen Vorschlag für eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten in ihren Beschlussantrag aufgenommen hat. Der Vorschlag wird auch dadurch nicht falsch, dass er ebenfalls von der AfD in ihrem Antrag eingebracht worden ist, so unerfreulich diese ungewollte Partnerschaft auch ist. Der Antrag wurde von allen anderen Fraktionen einstimmig abgelehnt.

Was bleibt, ist ein Beschluss des Bundestages, der der historischen Situation vollkommen unangemessen ist und dessen Autoren man eher im Ministerium für strategische Angelegenheiten in Jerusalem vermuten könnte als im Bundestag in Berlin. Der Tagesschau war er nicht einmal eine Erwähnung wert.

Zwei Staaten ohne Alternative?

Allen Fraktionen im Bundestag sollte klar sein, dass die Zweistaatenlösung nur noch eine Fiktion ist, die durch den israelischen Landraub und die fortschreitende Siedlungspolitik schon lange keine Option für einen selbständigen palästinensischen Staat und den Frieden in der Region mehr bietet. Wenn die Staaten in der UNO dennoch daran festhalten, ist es diese Fiktion, die ihnen weiterhin die Möglichkeit des Eingreifens in den Konflikt bietet. Bei einem einzigen israelisch-palästinensischen Staat könnte jede Initiative zugunsten und zum Schutz der Palästinenser als unerlaubte Einmischung in innere Angelegenheiten zurückgewiesen werden. Die UNO und ihre Mitgliedstaaten hätten jegliches Mandat zur Einflussnahme auf den Konflikt verloren.

Die Palästinenserinnen und Palästinenser wären in ihrem Kampf gegen das Apartheidsystem um Selbstbestimmung und gleiche Rechte weitgehend auf sich selbst gestellt.

Für diese immer wahrscheinlicher werdende Variante hat jedoch keine der beiden Seiten bisher ein realistisches Konzept vorgelegt. Weder die Juden Israels, die dieses Modell nicht wollen, da sie um den ausschließlich jüdischen Charakter dieses Staates fürchten, noch die UNO und die Palästinenser selbst, da sie immer noch an der jahrzehntelangen Praxis auf der Basis der Resolution 181 von 1947 hängen. Die jüdische Bevölkerung steht dieser verzwickten Situation insgesamt ziemlich gleichgültig gegenüber, wie die Befragung der Jerusalem Post vor kurzem ergeben hat. Danach sind 27 Prozent für die Annexion, 23 Prozent dagegen und 29 Prozent haben keine Meinung. Nur in einer Frage stimmen sie mit großer Mehrheit überein: Sie wollen einen jüdischen Staat.

Langsam setzt sich aber die Erkenntnis durch, dass dieser nicht gleichzeitig mit einer Demokratie zu vereinbaren ist. Doch das hat die Einstellung der Masse der jüdischen Bevölkerung bisher wenig verändert, die auf die Exklusivität eines jüdischen Staates baut und die internationale Unterstützung dafür erwartet.

Schon jetzt haben Annexion und Besatzung faktisch das Ein-Staat-Modell vorweggenommen, allerdings in der Form eines Apartheidsystems. Um daraus einen jüdischen und demokratischen Staat zu formen, müsste die vollständige Gleichberechtigung aller jüdischen, arabischen und übrigen Bewohner durchgesetzt werden. Ob in einer föderalen Struktur, wie Omri Boehm es in seinem neuen Buch „Israel — Eine Utopie“ fordert, oder in einer anderen staatlichen Organisation, ist eine nachrangige Frage.

Voraussetzung wäre vor allem, dass sich die Einsicht durchsetzt, dass die Sicherheit und Zukunft der jüdischen Bevölkerung besser gemeinsam mit der palästinensischen Bevölkerung als gegen sie garantiert werden kann. Der Kampf um Demokratie müsste die alte Gegnerschaft und Frontstellung überwinden und ein gemeinsamer Kampf werden. Derzeit eine Utopie — aber die Vergangenheit hat gezeigt, dass es anders wohl keine Zukunft gibt.

Source www.rubikon.news

Report Page