Aufstrebende Macht
www.rubikon.newsVorbemerkungen
„Stehende Heere sollen mit der Zeit ganz aufhören. Denn sie bedrohen andere Staaten mit Krieg durch die Bereitschaft, immer dazu gerüstet zu erscheinen; reizen diese an, sich einander in der Menge der Gerüsteten, die keine Grenze kennt, zu übertreffen …“
— Immanuel Kant: Zum Ewigen Frieden, 3. Präliminarartikel
Binnen eines Vierteljahrhunderts hatte das Deutsche Reich zwei Weltkriege vom Zaun gebrochen. Der Zweite endete mit der nahezu vollständigen Zerstörung Europas und der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands. Die Siegermächte wie die nicht zuletzt aufgrund des Horrors des Zweiten Weltkriegs gegründete Organisation der Vereinten Nationen legten den Grundstein für eine Ordnung, die ein Wiederaufleben des deutschen (und japanischen) Militarismus für immer verhindern und den Krieg als Mittel der Politik ein für alle Mal bannen sollte. In Deutschland selbst herrschte ein weitgehender Konsens: „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!“ Der preußisch-deutsche Militarismus, der bis dahin maßgeblich die politische Kultur in Deutschland geprägt hatte, schien als deren sinnstiftendes Element endgültig überwunden. So schrieb der Militärhistoriker Wolfram Wette (2005: 30) mit Verweis auf den Friedensforscher Ekkehart Krippendorff (1934 bis 2018):
„Immerhin habe die Militär- und Militarismuskritik in den letzten hundert Jahren die früher selbstverständliche Legitimität von Militär und Krieg zumindest teilweise zu Fall gebracht.“
Die Frage nach der Legitimität von Krieg als Mittel der Politik durchzieht die philosophische Diskussion seit der griechischen Antike, fand bis heute immer neue Höhepunkte wie etwa in Thomas von Aquins Überlegungen zum gerechten Krieg oder in Clausewitz’ Formulierung von Krieg als bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Diese Tradition in der Lehre von den Internationalen Beziehungen gilt allgemein als „realistische Schule“, sie prägt als herrschender Ansatz dieser politikwissenschaftlichen Teildisziplin noch heute die fachwissenschaftliche Diskussion. Mehr noch scheint sie das Handeln in der Außenpolitik zu bestimmen, wie sie Hans J. Morgenthau (1948) in seinem, als klassisch geltenden Werk „Politics among Nations“ entwickelt hat. Ihm zufolge streben Staaten von Natur aus nach Macht. Das internationale System ist daher anarchisch, dem Völkerrecht erkennt er nur marginale, korrektive Kompetenz zu.
So ist internationale Politik ein immerwährender Kampf um Macht, Militär wird so zum wichtigsten Machtinstrument, Frieden erscheint als immer prekäres Resultat von Überlegenheit und Bedrohung.
Demgegenüber steht die Minderheit der Vertreter der „idealistischen Schule“, die in der Entwicklung von Institutionen und Verträgen, im Völkerrecht und seiner Weiterentwicklung die Möglichkeit sieht, der Anarchie des internationalen Systems ein Ende zu setzen. Diese alternative Vision lässt sich zurückführen auf Immanuel Kant. Sie lässt sich in der einfachen Formel zusammenfassen, dass Frieden dann als gesichert gelten kann, wenn sich „der Andere“ nicht mehr bedroht, sondern sicher fühlen kann. Wie wenig diese Denkweise unseren Alltag prägt, zeigt sich schon in der alltäglichen Wortwahl: „Verteidigung“ ist der begriffliche Hauptnenner für alles, was mit Sicherheit zu tun hat. Dass „Verteidigung“ genannte Anstrengungen, so sie tatsächlich nur dies bezwecken sollten, beim „Anderen“ als Bedrohung wahrgenommen werden können und zu entsprechenden Gegenmaßnahmen führen, scheint unbedacht zu bleiben. Hinter dieser politischen Praxis steht der Gedanke, dass „glaubhafte Abschreckung“ Krieg vermeiden — oder durch Ausschaltung des als Feind Wahrgenommenen den Frieden sichern könne. Dieser Grundgedanke orientiert sich an der Machtdefinition Max Webers (1980: 28), der feststellt:
„Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht.“
Im Folgenden soll der lange, komplizierte, letztlich aber unter „realistischen“ Voraussetzungen äußerst erfolgreiche Weg betrachtet werden, den (West-)Deutschland gegangen ist, um auf dem Umweg über die Westintegration wieder zu einer militärischen Macht zu werden. Es ist zugleich ein Weg der Restauration, der ganz in der Tradition des Realismus zurückführt zu den alten Konzepten von Macht und (auch militärischer) Dominanz. Den fortbestehenden Ängsten der einstigen Kriegsgegner und neuen Verbündeten, die im Zuge der Umwälzungen in der DDR 1989/90 nochmals massiv zutage traten, begegneten die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland durch formalen Verzicht auf militärische Eigenständigkeit. „Immer im Bündnis“ wurde zur obersten Maxime deutscher Politik nach der Wiederbewaffnung.
Inzwischen aber, nach Ende des bipolaren Systems, dem Beitritt der DDR zur BRD, dem Aufstieg der EU zu einer globalen Handels- und Wirtschaftsmacht und ihrer Militarisierung, der Osterweiterung der NATO und dem kaum bestreitbaren Niedergang der langjährigen Führungsmacht USA eröffnen sich neue Perspektiven. Der Weg dahin war lang und immer gekennzeichnet durch noch vorhandene Ängste vor Deutschland, durch wachsende Rivalitäten auch innerhalb der viel beschworenen westlichen Staatengemeinschaft. Sie zu nutzen, war eine gelungene Leistung der auf Restauration zielenden deutschen Diplomatie. Unter der Maxime einer „neuen Verantwortung“ kommen Machtansprüche zum Vorschein, die für Deutschland eine neue Führungsrolle fordern. Mit diesen will sich dieses Buch kritisch auseinandersetzen.
Das Trauma der Weltkriege scheint aber noch immer tief im Bewusstsein der deutschen Bevölkerung verankert zu sein: Noch immer lehnen rund 70 Prozent Auslandseinsätze der Bundeswehr ab. Die das Grundgesetz (Artikel 87a) verbiegende Feststellung des Verteidigungsministers Peter Struck (SPD, 2002 bis 2005), Deutschland werde am Hindukusch verteidigt, löste einen Sturm der Entrüstung aus. Es ist diese Sensibilität der — noch vorhandenen — Mehrheit der deutschen Bevölkerung, die erklärt, weshalb die (Re-)Militarisierung der Republik von den jeweiligen Regierungen der Öffentlichkeit gegenüber stets mit großer Vorsicht präsentiert wurde. Dies gilt gerade auch für die unmittelbare Gegenwart:
Der sich schleichend vollziehende Aufstieg Deutschlands zu einer der führenden Militärmächte wird kaschiert unter dem Stichwort „Verantwortung“.
Dieser moralisierende Begriff zielt auf Akzeptanz, wie sie auch in den Begriffen steckt, die in jüngster Zeit zur Legitimation von Kriegen geschaffen worden sind wie etwa die „humanitäre Intervention“ oder die „Schutzverantwortung“ (Responsibility to Protect, kurz: R2P).
Deutsche Verantwortung
Der Restauration in Deutschland ist ein Meisterwerk gelungen. Deutschland ist wieder eine international etablierte Macht. Abgesehen von seiner wirtschaftlichen Leistung genießt es Anerkennung in der Welt. Seine Verbrechen als Kolonialmacht wie etwa der Völkermord an den Nama und Herero gehören einer längst vergessenen Vergangenheit an. Das Prestige Deutschlands beruht auch auf seiner — bisher relativen — militärischen Enthaltsamkeit. Denn wo immer es militärisch agierte, ist es „immer im Bündnis“ und nie an vorderster Stelle aufgetreten.
Aber: Derzeit beteiligt sich die Bundeswehr an 14 Militäreinsätzen (BMVg 2019a) (1), was trotz des Parlamentsbeteiligungsgesetzes wenig öffentliche Aufmerksamkeit erregt. 21 Einsätze wurden in der Zeit von 1990 bis heute abgeschlossen (BMVg 2019b). Schritt für Schritt weiten diese Einsätze den militärischen Handlungsrahmen aus.
Jenseits dieser Einsätze gibt es „anerkannte Missionen“ der Bundeswehr. Das BMVg definiert diese so:
„(Anerkannte Missionen) sind Verwendungen im In- und Ausland, bei denen die Rahmenbedingungen mit einer besonderen Auslandsverwendung — also einem Einsatz — vergleichbar sind. Dies geschieht vor allem in enger Zusammenarbeit mit Partnern der Europäischen Union und den Verbündeten in der NATO“
— (BMVg 2019c)
Dies sind offensichtlich Einsätze, die nicht unter den Parlamentsvorbehalt fallen, also vom Bundestag nicht eigens genehmigt werden müssen. Sie finden sich in den Schwerpunktgebieten der NATO-Tätigkeit, also im Baltikum, im Mittelmeer, der Ägäis und im Nordatlantik.
Betrachtet man abgeschlossene und im Gang befindliche Einsätze, so lässt sich leicht ein Trend erkennen: Waren die ersten Einsätze noch stark geprägt von humanitären und technischen Aufgaben, so verlagerte sich das Mandat — durchaus immer noch begleitet von Beobachtungsmissionen — immer stärker auf den Einsatz „robuster“ militärischer Mittel und in Richtung der großen Krisenzonen wie Sahel, Naher Osten, Horn von Afrika. Gerade aber die „Anerkannten Missionen“ im Rahmen der Bündnisse erfolgen unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle der Öffentlichkeit, finden aber statt in jenen Regionen und Bereichen, die für den Aufmarsch gegen Russland oft von besonderer Relevanz sind.
So lässt sich zusammenfassend feststellen, dass der Begriff der „humanitären Aktion“ seine Schuldigkeit getan hat, er taucht auch in der Begründung für Einsätze so gut wie nicht mehr auf:
Ein Gewöhnungseffekt bezüglich der Auslandseinsätze der Bundeswehr scheint beabsichtigt — und funktioniert zu haben. Und der immer so hoch gehaltene Parlamentsvorbehalt hat bisher noch keinen Einsatz verhindert, er verkommt zunehmend zu einem einfachen Akt des Durchwinkens.
Fußend auf dem internationalen Ansehen, das Deutschland noch immer als Friedenskraft erscheinen lässt, hat die politische Klasse jene „Neue Macht“ entdeckt, die keusch unter der Formulierung „neue Verantwortung“ vermarktet wird. Dabei folgt sie dem überkommenen „realistischen Paradigma“, dass Macht sich letztlich in militärischer Macht auszudrücken hat. Die Veränderungen im internationalen System, das Verschwinden der Sowjetunion, der relative Niedergang der USA, der Aufstieg Chinas, aber auch der Europäischen Union, das Aufscheinen einer multipolaren Welt bieten den Rahmen, in dem Deutschland sich als eigenständige Macht zu positionieren sucht.
- Die Steigerung der deutschen Rüstungsausgaben auf 2 Prozent des BIP ist der entscheidende Schritt in Richtung auf die Etablierung Deutschlands als Militärmacht.
- Damit wird Deutschland zum zweitwichtigsten Partner in der NATO und zur tragenden Stütze ihres europäischen Pfeilers. Seine territoriale Stellung prädestiniert es als „Scharniermacht“ im NATO-Aufmarsch gegen Russland.
- Zugleich wird Deutschland zur stärksten Militärmacht in der EU und kann seine Führungsrolle im Rahmen von PESCO ausbauen. Insbesondere der Einsatz in Mali zeigt, dass Deutschland einerseits gewillt ist, Frankreichs koloniales Erbe zu sichern, sich aber andererseits zugleich ein Mitspracherecht im ehemals französischen Kolonialraum zu sichern versucht.
- So gelingt es Deutschland, sich den USA als unverzichtbarer Partner auf dem Kontinent anzubieten, zugleich aber den Europäern zu signalisieren, dass ohne Deutschland eine eigenständige europäische Außen- und Sicherheitspolitik nicht zu haben sein wird. Die „balancierte Partnerschaft“ wird zur Trumpfkarte im Hochschaukeln der eigenen Position im jeweiligen Bündnis.
- Damit öffnet sich letztlich die Tür zur nuklearen Option: Sei dies der Ausbau der „nuklearen Teilhabe“ im Rahmen der NATO oder eine Ouvertüre bezüglich einer Mitbestimmung über die französischen Atomwaffen: Sowohl für die USA wie für Frankreich wird es in dieser Situation darauf hinauslaufen, Deutschland in der einen oder anderen Weise einzubinden. Der Wille, eine Mitentscheidung über den Einsatz von Atomwaffen zumindest in einem der beiden Bündnisse zu erreichen, erklärt, weshalb Deutschland der Internationalen Kampagne für die Abschaffung der Atomwaffen nicht beitritt (2) und die Kündigung des INF-Vertrags durch die USA kritiklos hingenommen hat.
- Statt Frieden und Abrüstung zu befördern, fordert Deutschland immer mehr Beteiligung durch militärische Einmischung: Bar jeder Kenntnis des Völkerrechts und ohne massive Kritik zu ernten, plädiert die amtierende Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer für die Verstärkung und Kampfbeteiligung der Bundeswehr in Mali und die Entsendung der Bundeswehr in den von der Türkei völkerrechtswidrig besetzten Teil Nordsyriens, wo eine „Sicherheitszone“ errichtet werden soll. Absichtsvoll (?) vermeidet die Ministerin jeden Hinweis auf das Völkerrecht, das einen solchen Schritt verbietet.
- Um seine militärische Macht weiter zu befördern, beteiligt sich Deutschland mit enormen Mitteln am bisher größten Manöver an den Grenzen Russlands, „Defender 2020“, vor, für das 37.000 Soldaten samt schweren Geräts nach Polen und ins Baltikum verlegt werden. In Ulm liegt dabei, wie genannt, die logistische Drehscheibe des NATO-Unternehmens (zu den Einzelheiten siehe Wagner 2020).
- Das postbipolare System ist in voller Bewegung. So schier unaufhaltsam der Aufstieg Chinas erscheint, so wahrscheinlich scheint der Abstieg der USA — trotz oder gerade wegen ihrer gewaltigen Hochrüstung. Ob „der Westen“ nochmals zu solidarischer Einheit zurückfindet, ist mehr als offen. Die Verselbstständigung der EU als eines neuen Gravitationszentrums im internationalen System unter deutscher Führung ist in vollem Gange. Die Geschlossenheit dieses Gebildes könnte aber gerade durch die deutsche Dominanz-Politik innerhalb der EU in die Krise geraten. Die von Deutschland betriebene „balancierte Partnerschaft“ zwischen NATO und EU ist nur zu durchschaubar und kann auch alte Ängste vor deutschem Großmachtstreben wecken.
Es bleibt: Die im Gang befindlichen Rivalitäten bringen viel Bewegung mit sich, mehr Sicherheit versprechen sie nicht, im Gegenteil: Sie stärken Misstrauen und fördern neue Rüstungswettläufe, die Angst- und Drohpotenziale erhöhen. Umso mehr wäre eine Politik angesagt, die ein neues System gegenseitiger kollektiver Sicherheit anstrebt, die vor allem Russland miteinbezieht und ihm eine Rückversicherung bietet. Genau hier läge die Aufgabe verantwortungsvoller deutscher Politik. Gelänge dies, könnte auch leichter erreicht werden, dass China sich in ein neues regelbasiertes System einbinden ließe — und die USA könnten begreifen, dass friedlicher Interessenausgleich in einem ungleichgewichtig multipolaren System in ihrem Interesse sein könnte. Dies ist umso wichtiger, als ein multipolares System notwendigerweise weniger stabil ist, als es das bi- oder monopolare System war.
Eine konstruktive, auf Frieden orientierte Politik müsste radikal Abstand nehmen von jenem „realistischen Paradigma“, das die Weltpolitik während des letzten Jahrhunderts geprägt hat und das bis heute vorherrschend ist. Ernst-Otto Czempiel (1999: 246f), langjähriger Direktor der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung, hat das falsche und gefährliche Denken des so gut wie ausschließlich auf militärische Macht fokussierten realistischen Ansatzes treffend auf den Punkt gebracht:
„Aber Macht (…) muss sich auf die neuen Bedingungen einstellen, darf ihnen nicht alte Strategien aufzwingen wollen. Sonst stellt sie nur die Realismusfalle auf, erzeugt Konflikte, durch die sie sich bestätigt fühlt, die es aber ohne ihr Fehlverhalten gar nicht gegeben hätte. Diese Art von Realpolitik sollte sich die Gesellschaftswelt nicht mehr aufreden lassen. Denn sie bezahlt mit Leib und Leben, Hab und Gut dafür, wenn immer wieder alter, gekippter Wein in die neuen Schläuche eingefüllt wird …“
Ja, Deutschland hat Macht. Und gerade die Entwicklung Deutschlands hat gezeigt, dass Macht mehr ist als militärische Macht. Deutschland ist eine der größten Wirtschaftsnationen der Welt. Es hat (noch) ein vorzeigbares Sozialsystem. Es spielt eine führende Rolle in Kultur und Wissenschaft. Vor allem aber: Deutschland genießt (noch) in der Welt den Ruf einer Friedensmacht, die nicht zuletzt davon profitiert, dass sie ihre Kolonien früh verloren hat. Es genießt international Vertrauen. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass es wie kein anderes Land in regelmäßigem Turnus als nicht-ständiges Mitglied in den UN-Sicherheitsrat gewählt wird. All dies ist Macht, die nicht aus Gewehrläufen kommt.
All dies ist politisches Kapital und aus all dem ergeben sich Handlungsspielräume, mehr noch: Verantwortung, die nicht zuletzt gerade aus der deutschen Geschichte resultiert. In diesem Sinne könnte/müsste Deutschland
- seine Position als nicht-ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats nutzen und die Nuklearwaffenkonvention der Vereinten Nationen unterstützen. Diese Initiative wurde unter anderem durch das EU-Mitglied Österreich auf den Weg gebracht. Mittlerweile haben 122 der 193 UN-Mitglieder den Vertrag unterzeichnet — jedoch kein Mitglied der NATO. Ein Beitritt Deutschlands wäre nicht nur eine klare Absage an die „nukleare Teilhabe“, sie wäre auch ein klares Signal an die NATO und die USA, wieder in Verhandlungen über Abrüstung und Rüstungskontrolle einzusteigen.
- Ein solcher Schritt könnte eine ernsthafte Debatte innerhalb der NATO über die Sinnhaftigkeit forcierter Hochrüstung und der seit Ende des Kalten Krieges betriebenen Osterweiterung initiieren. Richtig und wünschenswert ist, dass eine solche Politik das Kernverständnis der NATO (und der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik — ESVP, siehe oben: 3.1 „Die Entwicklung der WEU“) auf den Prüfstand stellen würde, wonach Sicherheit nur durch militärische Überlegenheit gewährleistet werden kann.
- Deutschland könnte und sollte sich dem Ziel der Aufrüstung auf 2 Prozent des BIP verweigern, stattdessen weitere Schritte zur Abrüstung unternehmen, die eingesparten Gelder für dringende Ausgaben im Sozial- und Umweltbereich verwenden. Eine solche Entscheidung müsste (zunächst) begleitet werden vom Austritt Deutschlands aus der Militärorganisation der NATO mit dem mittelfristigen Ziel einer Auflösung des transatlantischen Bündnisses.
- Initiiert werden könnte und müsste eine solche Politik durch Schließung der US-Basen in Büchel und vor allem in Ramstein, von wo aus die völkerrechtswidrigen Drohnenangriffe im Nahen und Mittleren Osten und in Afrika gesteuert werden. Deutschland macht sich dadurch mitschuldig an Aktionen wie der Ermordung des iranischen Generals Ghassem Soleimani im Januar 2020. Dass den USA das Bündnis allenfalls Instrument ist, zeigt die Tatsache, dass sie ihre Bündnispartner über diese Aktion noch nicht einmal informierten. Das Bündnis gewährleistet nicht mehr Sicherheit, es wird zur Gefahrenquelle.
- Begleitet werden könnte und müsste eine solche Politik durch die Rückkehr zu den in der Charta von Paris formulierten Prinzipien, durch vertrauensbildende Maßnahmen vor allem gegenüber Russland, die Rückkehr zu den (noch) bestehenden oder gerade gekündigten Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträgen und deren Erweiterung. Dazu gehört auch die Aktivierung „weicher“ Diplomatie: die Verstärkung der wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenarbeit, die vielfältige Intensivierung zivilgesellschaftlichen Austauschs, die Aufarbeitung der Geschichte.
All dies erscheint nicht nur wünschenswert, sondern auch machbar, wenn Deutschland seine politischen Entscheidungen an der Charta der Vereinten Nationen, den Beschlüssen der UN-Generalversammlung, an Geist und Buchstaben des 2+4-Vertrags, an den Selbstverständniserklärungen der Europäischen Union orientieren würde. Dass in der deutschen Demokratie sich die große Mehrheit der Bevölkerung immer noch gegen Aufrüstung, Auslandseinsätze und militärische Drohpolitik ausspricht, ist die verinnerlichte Lehre aus den Weltkriegen. Dies sollte Grundlage deutscher Verantwortung sein.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Diese reichen von der NATO-geführten Operation „Resolute Support“ in Afghanistan über UN-mandatierte Missionen wie MINUSMA in Mali oder UNIFIL im Libanon oder über EU-geführte Einsätze wie die Ausbildungsmission in Mali oder den Marineeinsatz ATALANTA am Horn von Afrika bis zu reinen Beobachtermissionen wie etwa der MINURSO in der Westsahara und der UNMHA im Jemen. Derzeit sind mehr als 3.300 deutsche Soldatinnen und Soldaten in einem solchen Auslandseinsatz (BMVg 2019a). „Immer im Bündnis“ heißt dabei, dass viele der Operationen sich auf ein UN-Mandat stützen können und von multinationalen Truppen durchgeführt werden. Andere aber, wie beispielsweise „Resolute Support“ oder ATALANTA, sind Missionen, die nur von der NATO beziehungsweise der EU durchgeführt werden. Beim Einsatz der Bundesluftwaffe in Syrien und Irak („Anti-IS-Einsatz“) übernehmen die deutschen Tornados hauptsächlich die Zieldefinition für die Luftangriffe der USA. Sie sind also verantwortlich für die (irrtümliche) Bombardierung auch ziviler Einrichtungen wie Schulen, Krankenhäuser und Moscheen. Dieser Einsatz besitzt kein internationales oder vom UN-Sicherheitsrat beschlossenes Mandat, ist also vom Völkerrecht nicht gedeckt. Juristisch berufen sich Vertreter/innen des Einsatzes auf das allgemeine Selbstverteidigungsrecht laut Artikel 51 der UN-Charta oder auf die sehr vage Formulierung der Resolution der UN-Vollversammlung Nr. 2249 (2015). Ein Mandat des UN-Sicherheitsrats für diesen Einsatz existiert nicht. Mehrere Völkerrechtler halten diesen Einsatz daher für völkerrechtswidrig. Dennoch wurde der Einsatz am 4. Dezember 2015 mit den Stimmen der Koalition vom Bundestag beschlossen, im Dezember 2017 wurde das Mandat noch ausgeweitet und im November 2019 verlängert.
(2) Die International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN), initiiert durch die IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung eines Atomkriegs), ist ein internationales Bündnis von Nichtregierungsorganisationen, das die Abschaffung von Atomwaffen durch einen bindenden internationalen Vertrag fordert. 2017 erhielt ICAN den Friedensnobelpreis. Im Juli 2017 stimmten 122 Mitgliedstaaten der UN für einen solchen Vertrag, 23 Staaten befürworteten ihn (www.icanw.org).
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